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scheidet man Knaben-, Mädchen- und gemischte
Schulen bzw. Klassen. Manche behaupten, es sei
gut, wenn Knaben und Mädchen gemeinsam unter-
richtet würden; die wilden Knaben könnten von
den Mädchen sanfteres Benehmen, Anstand und
Höflichkeit, Ordnung und Reinlichkeit lernen diese
von jenen etwas mehr Mut und Tatkraft, klares
Denken und besonnenes Urteilen. Demgegenüber
ist aber festzustellen, daß, abgesehen von den sitt-
lichen Gefahren, die aus dem beständigen Zu-
sammensein der beiden Geschlechter erwachsen
können, ein gemeinsamer Unterricht auch nicht der
verschiedenen Eigenart von Knaben und Mädchen
gerecht wird, deren Bildungsgang und Bildungs-
bedürfnis zwar gleichwertig, aber nicht gleichartig
ist. Diese Anschauung herrscht auch durchweg in
der Bevölkerung Deutschlands. Der beste Beweis
dafür ist, daß gerade in den Städten 1906
1 669 286 Kinder in getrennten und nur 636979
in gemischten Klassen unterrichtet wurden, und
zwar sind dies nur die unteren Klassen. Der
Unterschied würde zweifellos noch größer sein,
wenn nicht gerade an diesem Punkt die Kosten-
frage ein ausschlaggebendes Hindernis wäre. Nur
hierin ist auch die Erklärung für die an sich sonder-
bare Erscheinung zu suchen, daß gerade auf dem
Land, welches dem durchaus liberalen Prinzip der
Koedukation absolut fern steht, die Sache umge-
kehrt so liegt, daß 3 296 596 Kinder in gemischten
und nur 561 537 in getrennten Klassen unter-
richtet werden. Die meist leistungsschwachen länd-
lichen Gemeinden sind eben nicht in der Lage, sich
getrennte Schulklassen und damit auch eine wesent-
liche Vermehrung der Lehrkräfte gestatten zu kön-
nen. Hinzu kommt dann noch der von der Regie-
rung geltend gemachte unterrichtliche Gesichtspunkt,
daß eine Schule mit zwei oder vier Klassen im all-
gemeinen besser ist als zwei Schulen mit je einer
oder je zwei Klassen. So sogen die Allgemeinen
Bestimmungen vom 15. Okt. 1872 für Preußen
unter Nr 6: „Für mehrklassige Schulen ist rück-
sichtlich der oberen Klassen eine Trennung der Ge-
schlechter wünschenswert. Wo nur zwei Lehrer
angestellt sind, ist eine Einrichtung mit zwei bzw.
drei aufsteigenden Klassen derjenigen zweier nach
Geschlechtern getrennten einklassigen Volksschulen
vorzuziehen.“ Dieselbe vermittelnde Stellung wie
Preußen nehmen die andern deutschen Staaten
ein. Dagegen ist in Nordamerika gemeinsamer
Unterricht der Geschlechter bis zur Universität hin-
auf üblich. Bemerkenswert ist, daß neuerdings
einige amerikanische Hochschulen eine Trennung
herbeizuführen suchen. Auch Schweden, Norwegen,
Dänemark und Rußland bevorzugen die gemischten
Klassen, während in den katholisch-romanischen
Ländern Südeuropas die Trennung konsequent
durchgeführt ist. In Osterreich ist bestimmt, daß bei
Halbtagsunterricht die Mädchen der Oberstufe mit
den jüngeren Kindern zusammen unterrichtet werden.
Einrichtung, Aufgabe und Ziel der
preußischen Volksschule richten sich auch heute noch
Volksschulen.
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nach den Allgemeinen Bestimmungen vom 15. Okt.
1872, die sich ihrerseits auf das Regulativ vom
3..Okt. 1854 stützen. Diese kennen als „normale“
Volksschuleinrichtungen die mehrklassige Schule,
die Schule mit zwei Lehrern und die Schule mit
einem Lehrer, welche entweder die einklassige
Schule oder die Halbtagsschule ist. Die zulässige
Durchschnittszahl der Kinder ist bei mehrklassigen
Schulen 70; die einklassige Schule gilt als über-
füllt, wenn sie mehr als 80 Kinder hat. Es liegt
auf der Hand, daß diese Normalzahlen mit der
Zeit und dem steigenden Wohlstand der Bevölke-
rung eine Herabsetzung erfahren werden. Dies
würde auch der stetig steigenden Aufwärtsbewegung
entsprechen, in der sich das preußische Volksschul-
wesen ebenso wie das der meisten andern Bundes-
staaten befindet. Die unbesetzten Lehrerstellen und
die überfüllten Klassen gehen stetig zurück. 1906
zählte Preußen 37761 Schulen mit 115 902
Schulklassen und 101 051 Lehrkräften. Darunter
waren 13561 einklassige und 7369 Halbtags-
schulen. Als überfüllt galten 1550 Halbtagsschulen
(gegen 2069 in 1901), 767 einklassige (gegen
952 in 1901), 5430 Klassen an mehrklassigen
Systemen (gegen 6118 in 1901). Wegen Üüber-
füllung der Klassen mußten zurückgestellt werden
919 Kinder (gegen 2735 in 1901).
Während früher die sechsklassige Schule als die
günstigste galt, bricht sich neuerdings die achtklas-
sige mehr und mehr Bahn. Es erscheint natur-
gemäß, jeden Jahrgang in einer besondern Klasse
zu unterrichten. Dadurch wird eine gleichmäßige
Förderung der Schüler am ehesten erreicht und
die beste Gewähr dafür geboten, daß die Schule
das leistet, was sie überhaupt zu leisten vermag.
Dem Einwand, daß alle jene Kinder, die auch nur
einmal zurückbleiben, die erste Klasse nicht er-
reichen und so keine abgeschlossene Bildung er-
langen, wird zu begegnen gesucht, indem man die
durchschnittliche Besetzung der Klassen fortgesetzt
verringert und für geistig schwach entwickelte Kin-
der besondere Hilfsschulen oder Hilfsklassen er-
richtet. 1911 zählte Preußen 309 solcher Anstalten
mit 1043 Klassen, 1111 Lehrkräften und 22 527
Kindern (gegen 567 Klassen mit 655 Lehrkräften
und 13 100 Kindern im Jahr 1907). Von diesen
Anstalten waren 157 evangelisch, 84 katholisch,
1 jüdisch, 67 paritätisch. Für die rein konfessio-
nelle Gestaltung, die noch nicht durchgeführt ist,
ist im preußischen Abgeordnetenhaus eine Mehr-
heit vorhanden. Die geringe Schülerzahl (durch-
schnittlich 21,6), geringe Stundenzahl, der Unter-
richt durch ausgewählte, besonders tüchtige Lehr-
kräfte machen eine individuelle Förderung dieser
Schüler möglich.
Seit 1911 ist für Preußen auch die Beschulung
blinder und taubstummer Kinder gesetzlich geregelt.
Hiernach sind blinde Kinder vom vollendeten 6.,
taubstumme vom vollendeten 7. Lebensjahr ab
schulpflichtig, soweit sie bildungsfähig sind. Wo
nicht für entsprechenden Privatunterricht gesorgt