Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ist, muß der Unterricht naturgemäß in besondern 
Anstalten durch besonders vorgebildete Lehrer ge- 
geben werden; besondere Einrichtungen sind er- 
sorderlich, um die Kinder für ein Gewerbe aus- 
zubilden. Der Unterricht dauert 8 Jahre, kann 
aber im Bedürfnisfall auf 11 Jahre ausgedehnt 
werden. Er ist grundsätzlich konfessionell. 
Wenn auch der Wert der vielklassigen Schule 
in Hinsicht auf den Unterricht unzweifelhaft fest- 
steht, so ist dies nicht in gleichem Maß für den 
erziehlichen Charakter der Schule der Fall. Außer 
dem Unterricht, dessen erziehliche Bedeutung in 
der Erzielung eines einheitlichen, auf das Ideale 
gerichteten Vorstellungskreises besteht, ist die Ge- 
wöhnung das wichtigste Erziehungsmittel der 
Schule. Sowohl die Einheitlichkeit des Unterrichts 
als auch die Stetigkeit der Gewöhnung erleiden 
Schaden, wenn ein zu häufiger Wechsel in der 
Person des Erziehers stattfindet. Dies ist die 
schwache Seite der mehrklassigen Schule. Wohl 
hält man hier noch am Klassenlehrersystem fest, 
d. h. jeder Lehrer unterrichtet in sämtlichen Unter- 
richtsgegenständen einer Klasse. Aber auch hierbei 
tritt jährlich ein Wechsel ein. Dazu kommt, daß die 
Lehrpläne vieler mehrklassigen Schulen die Unter- 
richtsziele sehr hoch schrauben und es dadurch 
manchem Lehrer unmöglich machen, in allen Gegen- 
ständen der Oberstufe zu unterrichten. Aus diesem 
Grund ist vielfach ein beschränktes Fachlehrer- 
system eingeführt, und es fehlt nicht an Stimmen, 
welche die vollständige Durchführung des Fach- 
lehrersystems für eine absolute Notwendigkeit er- 
klären. Doch ist dies unbedingt eine Überschätzung 
der intellektuellen Bildung; die Wirkung der 
Lehrerpersönlichkeit, auf welcher schließlich der Er- 
solg alles Unterrichts beruht, kann dann nur eine 
geringe sein. Es gelingt dem Lehrer in der be- 
schränkten Zeit nicht, genügenden Einfluß auf die 
Schüler zu erlangen, die zahlreichen Erzieher geben 
dem Kind Anlaß zur Vergleichung und Beurtei- 
lung, bei welcher, dem Bildungsgrad der Kinder 
entsprechend, Außerlichkeiten von ausschlaggeben- 
der Bedeutung sind. So wird die Autorität des 
Lehrers untergraben und bedenkliche Frühreife 
hervorgerufen. Die Durchführung der Klassen, 
bei welcher ein Lehrer dieselben Kinder mehrere 
Jahre unterrichtet, wird an den mehrklassigen 
Schulen nur in bescheidenem Umfang angewandt. 
Sie erscheint als ein wirksames Mittel, die unter- 
richtlichen Vorteile der mehrklassigen Schule mit 
den erziehlichen Vorzügen der einklassigen zu ver- 
binden. 
Da die Schulorganisation in erster Linie von 
der Schülerzahl abhängt, so finden wir nicht nur 
in Deutschland, sondern überhaupt in allen Län- 
dern ähnliche Einrichtungen wie in Preußen. In 
dünn bevölkerten Landstrichen (Schweden, Nor- 
wegen, Spanien, Teilen Osterreichs) werden ver- 
schiedene Noteinrichtungen erforderlich, in 
andern Fällen macht die gewerbliche und land- 
wirtschaftliche Beschäftigung der Kinder besondere 
Volksschulen. 
  
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Schuleinrichtung dig. Seitdem in Deutsch- 
land die Kinderarbeit in Fabriken untersagt wor- 
den ist, sind die in andern Ländern noch vorhan- 
denen „Fabrikschulen" verschwunden, dagegen gibt 
es noch einige sog. „Hüteschulen“ für Kinder mit 
landwirtschaftlicher Beschäftigung. Eine Eigen- 
tümlichkeit Osterreichs bilden die Bürgerschulen, 
in welche die Volksschüler nach fünfjährigem Be- 
such der Trivialschule übertreten können, um dort 
während der drei letzten Schuljahre einen weiter 
gehenden Unterricht zu empfangen. 
Einen gewissen Vergleich in Bezug auf den 
Stand des Volksschulwesens in verschiedenen Län- 
dern gewährt die Angabe der Schülerzahl, die 
durchschnittlich auf eine Lehrkraft entfallen. Sie 
beträgt für 1901 in Preußen 63 (für 1906: 59), 
in Bayern 57, in Württemberg 58, in Elsaß- 
Lothringen 43, in Lübeck 34, in Hamburg 37, in 
Bremen 47, in ganz Osterreich 65, in Böhmen 
58, in Niederösterreich 51, in Holland 37. In 
Dänemark ist 35, in Norwegen 40 als Höchst- 
zahl festgesetzt. 
In vielen Staaten bestehen Anstalten für das 
vorschulpflichtige Alter. Eigentlicher Unterricht 
wird in ihnen meist nicht erteilt. Sie fallen des- 
halb nicht unter den Begriff der Volksschule und 
bleiben hier unberücksichtigt. Eine immer steigende 
Bedeutung erlangen die Fortbildungsschulen. Das 
Nähere s. dies. Art. (Bd II, Sp. 220). Hier sei 
nur ergänzend bemerkt, daß das Streben, den 
Fortbildungsschulbesuch obligatorisch zu machen, 
auch in landwirtschaftlichen Kreisen immer mehr 
hervortritt. Dem preußischen Gesetz vom 8. Aug. 
1904, welches den Gemeinden der Provinz Hessen- 
Nassau ermöglichte, durch Ortsstatut den Besuch 
einer ländlichen Fortbildungsschule zur Pflicht zu 
machen, folgte ein entsprechendes Gesetz für die 
Provinz Hannover vom 25. Jan. 1909 und für 
die Provinz Schlesien vom 2. Juli 1910. Ein 
im Jahr 1911 dem preußischen Abgeordnetenhaus 
vorgelegter Gesetzentwurf, der die Errichtung von 
Fortbildungsschulen in allen Gemeinden mit 
10 000 Einwohnern und darüber vorschrieb, und 
alle männlichen, unter 18 Jahren alte, in öffent- 
lichen oder privaten Diensten beschäftigte Personen 
zum Besuch derselben verpflichtete, wurde von der 
Regierung fallen gelassen, nachdem sich in der vor- 
beratenden Kommission eine Mehrheit für die 
Einführung eines obligatorischen Religionsunter- 
richts auf Antrag des Schulvorstands ausgesprochen 
und eine Mitwirkung des Kultusministers (neben 
dem Handelsminister) bei der Ausführung des 
Gesetzes vorgesehen hatte. 
6. Der Lehrplan. Erst allmählich und an der 
Hand einer langen Erfahrung hat der Lehrplan 
der Volksschule die Gestalt angenommen, die er 
heute besitzt. Er gliedert sich in der Hauptsache 
nach drei Gesichtspunkten. Seinen Kern bilden 
die sog. ethischen Fächer Religion, Deutsch und 
Geschichte unter Hinzutritt von Rechnen nebst den 
Anfängen der Raumlehre. Daneben stehen die 
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