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die aber von den neueren katholischen Theologen
und Staatsphilosophen aufgegeben wurde, doch
grundverschieden von der nachher zu besprechenden
Lehre Rousseaus vom Staatsvertrag und von der
Volkssouveränität. Diese Theorien haben ihre
Wurzeln in England, wo zuerst der anglikanische
Bischof Poynet in seiner Abhandlung von der
politischen Gewalt (1558) die Ansicht von der
Souveränität des Volks vertrat.
Thomaspobbesllementa philosophica
de cive [1646)) hat sodann die Lehre vom Ge-
sellschaftsvertrag der ursprünglich souveränen In-
dividuen wissenschaftlich begründet und gelangte
zur Rechtfertigung der Lehre von der Unterwerfung
aller unter den einen Willen des absoluten
Staats. Seit Hobbes ist nun für viele Schrift-
steller der Staat aus dem Gesellschaftsvertrag ent-
standen, so steht es auch für John Locke (Two
Treatises on Government (1689.) außer Zwei-
fel, daß der historische Anfang des politischen Le-
bens in staatsgründenden Verträgen gelegen habe.
Diesen Staatsvertrag hat dann Samuel Pu-
fendorf(De iure naturae et gentium (16721)
in drei Akte zerlegt: in den Einigungsvertrag,
durch den die Individuen sich zum Volk zusammen-
schlossen, in das decretum, durch welches das so
geschaffene Volk die Staatsform festsetzt, und in den
Unterwerfungsvertrag, durch den dem Herrscher
die Regierungsgewalt übertragen wird. — Eine
andere Gestalt bekommt die Vertragslehre bei
Rousseau. Er hat in seiner Schrift Du con-
trat social (1762) den Satz John Lockes, daß
Freiheit vom Wesen des Menschen untrennbar sei
und auf sie daher nicht verzichtet werden könne,
auf den im Staat dargestellten Allgemeinwillen
angewendet; da im allgemeinen Willen der Wille
des einzelnen mitenthalten sei, so bleibe auch jeder
nur sich selbst unterworfen. Dieser allgemeine
Wille ist nach Rousseaus Ansicht unvertretbar, un-
teilbar, unveräußerlich, also ist ihm auch der
Gegenstand des Gemeinwillens notwendig Ge-
samtbeschluß des souveränen Volks. Die gesetz-
gebende Gewalt kommt nach ihm also notwendig
dem ganzen Volk zu, nicht so die Exekutivgewalt;
diese muß vielmehr einen besondern Träger haben,
der aber im Namen und Auftrag des Volks die
Gesetze ausführt, so daß also für Rousseau die
Regierung nur ausführendes Organ des souve-
ränen Volkswillens ist; deshalb könne das Volk
auch jederzeit die Gewalt der Regierung nach Be-
lieben beschränken oder zurücknehmen. Diese durch
Rousseau ausgebildete Lehre von der Volkssouve-
ränität, die sich ihrerseits auf die Vertragstheorie
gründet, wurde von größter Bedeutung.
Der Gedanke, daß aus dem Wesen des Men-
schen mit Notwendigkeit die Herrschaft des Allge-
meinwillens, also die Demokratie folge, war schon
im nordamerikanischen Unabhängigkeitskrieg zum
Ausdruck gekommen und sand vor allem begeisterte
Aufnahme in Frankreich, wo gleichzeitig Rous-
seaus Ideen revolutionär zu wirken begannen und
Volkssouveränität.
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nun in der furchtbaren Revolution von 1789
bis 1794 in die Tat umgesetzt wurden. Die
während der Revolution geschaffene Verfassung
von 1792 wie die Verfassung von 1848 beruhen
auf dem Prinzip dieser Volkssouveränität, ebenso
gehen die Plebiszite der Napoleonischen Zeit auf
denselben Gedanken zurück. Von Frankreich aus
gewann die Lehre von der Souveränität des Volks
weitgehenden Einfluß auf die Verfassungskämpfe
des 19. Jahrh. im ganzen festländischen Europa.
Dieselbe Theorie lebt fort in den politischen For-
derungen der radikal-demokratischen und sozial-
demokratischen Parteien.
3. Kritik. Die Theorie von der Volkssouve-
ränität gründet sich auf die Theorie von der all-
gemeinen und unveräußerlichen Gleichheit aller
Menschen. Diese aber widerspricht, wie selbst ein-
sichtige Sozialdemokraten heute zugeben, den Tat-
sachen. Die Menschen sind infolge ihrer angebornen
und erworbenen Eigenschaften unendlich verschie-
den. Dieser Differenzierungsprozeß nimmt aber
mit zunehmender Kultur immer mehr zu. Daraus
folgt auch notwendig, daß eine Differenzierung im
Einfluß auf die Gestaltung der Kultur, insbeson-
dere des staatlichen Lebens unausbleiblich ist. So
fällt die eine Stütze des radikal-demokratischen
Prinzips. Wie verhält es sich nun mit der Theorie
vom allgemeinen Volkswillen, dem sog. souveränen
Volk und der Bestellung der Staatsorgane durch
den „Volkswillen"? Dieser „Volkswille“ kommt
in den meisten Staaten zum Ausdruck in der vom
„Volk“ gewählten Volksvertretung, die somit als
Repräsentation des gesamten Volks gilt. Wie ver-
halten sich aber dazu die Tatsachen? Zunächst
fallen hierbei alle Personen weiblichen Geschlechts,
also etwa die Hälfte der Staatsbevölkerung weg,
sodann alle noch nicht wahlberechtigten männlichen
Personen, ferner die den Militärdienst leistenden
und andere Personen. So wird wohl kaum mehr
als ein Viertel der Nation nach Abzug der frei-
willigen Nichtwähler zur Wahl kommen. Die
Wähler selbst sind in oft viele Parteien gespalten,
so daß also höchstens ein größerer Bruchteil der
Bevölkerung seinen Willen in der Wahl des Volks-
vertreters durchgesetzt hat. So kann es vorkommen,
daß die Mehrheit der Volksvertreter doch nur Re-
präsentant eines kleinen Bruchteils der Bevölkerung
ist. Ebenso wird oft ein Beschluß dieser so ge-
wählten Volksvertretung nur mit knapper Mehr-
heit der Stimmen gefaßt. Ist nun dieses wirklich
ein Beschluß der Volksvertretung oder gar der
Ausdruck des wahren Volkswillens? Das wird
wohl niemand behaupten wollen, wenn der eben
charakterisierte „Volksbeschluß“ auch staatsrechtlich
als solcher gilt, d. h. als solcher fingiert wird.
Es ließen sich Beispiele genug dafür anführen,
daß gar oft Beschlüsse der Volksvertretung durch-
aus verschieden waren von dem wahren Willen
des Volks.
Literatur. Murhard, Die V. im Gegensatz
der Legitimität (1832); Meyer, Grundsätze der