Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Somweit das der Fall ist, kann man von der Aus- 
dehnung der Einflußsphäre der öffentlichen Haus- 
haltswirtschaft, also einer Einzelwirtschaft sprechen, 
aber nicht mehr von Volkswirtschaft. Ja, wenn 
ein Zukunftsstaat in der Weise verwirklicht wer- 
den sollte, daß Produktion und Zirkulation und 
Konsumtion der ganzen Welt durch irgendwelche 
Amter geregelt würde, dann hätte der Begriff 
Volkswirtschaft, so wie er hier aufgefaßt wird, 
keine Existenzberechtigung mehr. 
Daraus ergibt sich auch ohne weiteres, daß die 
Finanzwissenschaft, insofern sie die Lehre vom 
Haushalt des Staats und der öffentlichen Körper- 
schaften umfaßt, durchaus nicht ein Teil der Volks- 
wirtschaftslehre ist, sie ist eine wissenschaftliche 
Disziplin für sich, ähnlich wie die Privatwirt- 
schaftslehre, die früher schon an den landwirt- 
schaftlichen Hochschulen, neuerdings namentlich an 
den Handelshochschulen ihre besondere wissenschaft- 
liche Ausbildung erfährt. 
Ist die hier vertretene Auffassung von dem 
Begriff Volkswirtschaft richtig, dann ist es natür- 
lich falsch, nach bestimmten räumlichen Grenzen 
dieser Wirtschaft zu suchen, das von einem Einzel- 
willen nicht geleitete, organische Ineinandergreifen 
der Haushaltswirtschaften geht über die Grenzen 
der Nationen ebenso hinweg wie über die Grenzen 
der Rassen= und Religionsunterschiede; wenn auch 
selbstverständlich das Wirtschaftsleben mehr oder 
minder tief eingreifend beeinflußt wird durch Recht 
und Sitte, durch die Qualität der Bevölkerung 
ebenso wie durch deren Quantität, durch Rassen- 
eigenarten und Rassengegensätze, durch die konfes- 
sionelle Schichtung und ebenso selbstverständlich 
auch durch die historisch bedingten Staats- 
grenzen. 
Daß über das Wesen der Wissenschaft, mit der 
wir es hier zu tun haben, starke Meinungsver- 
schiedenheiten bestehen, geht schon aus der Vielheit 
und Vieldeutigleit der Namen hervor, die zu ihrer 
Bezeichnung gewählt wurden und werden. Dem 
hier von der Redaktion als Stichwort gewählten 
Worte machen namentlich die beiden: National- 
ökonomie und Sozialökonomie (sprachlich 
besser übrigens Sozialökonomit) den Rang streitig. 
Der von uns vorgetragenen Meinung entspricht un- 
zweifelhaft am besten der Name Sozialökonomik 
oder Sozialwirtschaftslehre, der denn auch in der 
Tat von einer Reihe führender Gelehrter entweder 
ausschließlich oder doch mit Vorliebe zur Bezeich- 
nung unserer Wissenschaft angewandt wird. 
Je mannigfacher und ausgedehnter sich das 
Ineinandergreifen der Haushaltswirtschaften dar- 
stellt, um so komplizierter werden natürlich die 
Probleme der Volkswirtschaftslehre, insofern hat 
die Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen 
der Menschen zueinander für das Wesen der 
Volkswirtschaftslehre einige Bedeutung. Näher 
darauf einzugehen, liegt außerhalb des Rahmens 
dieses Artikels. Nur so viel sei gesagt — es ergibt 
sich das schon aus dem Gesagten —, daß es wider- 
Volkswirtschaftslehre. 
  
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sinnig ist, neben der Volkswirtschaftslehre etwa 
noch von einer Weltwirtschaftslehre zu sprechen. 
Es ist richtig, daß sich die Volkswirtschaft allmäh- 
lich entwickelt hat von der Territorialwirtschaft 
(regelmäßiger Austausch einer größeren Anzahl 
von Warengattungen nur innerhalb eines Terri- 
toriums) über die Nationalwirtschaft (Austausch 
und Arbeitsteilung innerhalb eines national ge- 
einten Gesamtvolks) hinweg zur Weltwirtschaft 
(intensiver internationaler Güteraustausch und 
Arbeitsteilung). Aber das alles sind nur Stufen 
der volkswirtschaftlichen Entwicklung, deren Mög- 
lichkeiten und Grenzen innerhalb der Volkswirt- 
schaftslehre behandelt werden müssen. 
II. Die Aufgaben und die Methoden der 
Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft. All- 
gemein gesprochen ist die Volkswirtschaftslehre wie 
jede andere Wissenschaft ein Inbegriff von formu- 
lierten Gedanken, die auf Allgemeingültig- 
keit Anspruch machen (B. Erdmann). Macht man 
sich den Ernst dieses Ziels klar und denkt dabei 
zugleich an die begrenzten intellektuellen Möglich- 
keiten des Menschen, dann wird man bei der Ab- 
steckung der Grenzen der Volkswirtschaftslehre als 
Wissenschaft nicht unmögliche Weiten umfassen 
wollen. Professor A. v. Wenkstern meint in seiner 
„Einführung in die Volkswirtschaftslehre“: „Das 
Problem der Volkswirtschaftslehre ist die Entfal- 
faltung der Menschheit in allen ihren Anlagen, in 
der Beherrschung der Natur und in der Gestaltung 
des menschlichen Seins und Zusammenseins in 
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.“ Dem 
stelle man gegenüber folgende von Knies, dem 
theoretischen Begründer der „istorisch-psycholo- 
gischen“ deutschen Nationalökonomie: „Das For- 
schungsgebiet der Nationalökonomie ist das wirt- 
schaftliche Gemeinschaftsleben der Menschen, also 
einer jener Interessenbereiche und Tätigkeits- 
triebe, die in ihrer Gesamtheit das ganze Leben 
der wirtschaftlichen Persönlichkeit darstellen.“ Dort 
der himmelstürmende Epigone, hier der nüchtern, 
klar denkende Meister. Wir halten es mit dem 
letzteren und treten dadurch allerdings auch in Gegen- 
satz zu Gustav Schmoller, wenn er meint: „Volks- 
wirtschaftliche Erscheinungen beobachten heißt die 
Motive der betreffenden wirtschaftlichen Hand- 
lungen .. .klarlegen.“ Die in lebhaftem Fluß 
befindliche Gegenwart läßt sich noch weniger als 
die Vergangenheit „allseitig reproduzieren“. Da- 
her begnügt sich der Sozialökonom, wenn er 
wissenschaftlich arbeiten will, weil er nichts Un- 
mögliches leisten kann, in der Hauptsache mit der 
Betrachtung nur einer Seite des menschlichen Le- 
bens. Ihn interessieren die Menschen nur, soweit 
sie wirtschaftlich zu handeln in der Lage sind. Ein 
solches Isolierverfahren braucht unser wissenschaft- 
liches Gewissen um so weniger zu beunruhigen, weil 
schließlich auch die historischempirische Methode 
immer auf Abstraktion und Isolation angewiesen 
ist, „wenn überhaupt ein Denken zustande kommen 
soll" (Lisschitz.
	        
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