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Daraus, daß die Volkswirtschaftslehre, so wie
sie hier aufgefaßt wird, sich nur mit einer Seite
des menschlichen Lebens beschäftigt, ergibt sich noch
nicht ohne weiteres eine Stellungnahme zu dem
sehr ausgedehnten und sehr nutzlosen Streit, der sich
um die Frage drehte, ob für die Volkswirtschafts-
lehre die Methode der Deduktion oder die In-
duktion vorzuziehen sei. Zum Glück hat man sich
hinsichtlich dieses „Wie“ so ziemlich allgemein auf
das selbstverständliche Bekenntnis geeint, daß beide
Methoden angewandt werden können, „je na
dem Problem, dessen Aufhellung ansteht, je nach
der intellektuellen Individualität des Denkers,
welcher es behandelt, je nach dem Quantum und
Quale des Materials, welches vorliegt, kann
bald Induktion bald die Deduktion der relativ
bessere Weg sein“ (H. Dietzel, Art. „Selbstinteresse
und Methodenstreit", im Handwörterbuch der
Staatswissenschaften VII I819110)). Das alles
ist übrigens auch schon die Praxis der Klassiker
gewesen. Selbst der Meister der Deduktion unter
ihnen, Ricardo, hat durchaus nicht die Induktion
aus dem Bereich seines Denkens gewiesen. Ja
man hat mit Recht Zweifel darüber gehabt, ob
gar die berühmteste Theorie Ricardos, die Grund-
rententheorie, nicht etwa, wie es äußerlich scheint,
deduziert worden ist, sondern das Resultat der
Beobachtung induktiven Materials war, der Be-
wegung der Kornpreise, der Pachtrente, wie sie
sich in England zur Zeit der Kontinentalsperre
gestaltete.
Unter den Versuchen, methodisch über die Klas-
siker hinauszugelangen, hat bei den eigentlichen
Fachgelehrten namentlich in Deutschland am mei-
sten Anhänger gefunden die Lehre der historischen
Schule, die schon in ihrer älteren Linie (List,
Roscher, Hillebrand, Knies), namentlich aber in
ihrer jüngeren Linie (Schmoller) mit großer Leb-
haftigkeit das „Abstrahieren“ und „Isolieren“ der
klassischen Schule und deren Anhänger tadelte und
darüber hinaus noch insbesondere der Methode
der Induktion wenn auch nicht Alleinherrschaft,
so doch Vorherrschaft sichern wollte. Nach und
nach fand dieser Historismus auch im Ausland
warme Verteidiger, unter anderem traten für ihn
ein in England namentlich Cliffe Leslie, ferner
J. K. Ingram, in Frankreich Levasseur, d'Avenel,
Ch. Gide, in Italien Loria, Ricca-Salerno, in
Amerika Ely. Die grundsätzliche Auffassung der
Klassiker, wenn auch mit mehr oder weniger Modi-
fikationen, suchten demgegenüber zu verteidigen
außer einigen der nachher zu erwähnenden „Grenz-
nutzentheoretiker“ in Deutschland Adolf Wagner,
H. Dietzel, Lexis, Diehl, von Osterreich aus —
mit besonders gutem pädagogischem Geschick das
brauchbare Neue mit dem erhaltenswerten Alten
verbindend — Philippovich, in England Nichol-
son, Sidgwick, Marshall, Keynes, in Frankreich
Block, Molinari u. a.
Heute gilt wohl allgemein der Historismus in
seiner extremen Ausgestaltung in der Volkswirt-
Volkswirtschaftslehre.
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schaftslehre innerlich als überwunden, trotzdem er
durch weitreichenden persönlichen Einfluß vorläufig
noch mächtig genug zu sein scheint.
Ahnliches kann man auch, wissenschaftlich ge-
sehen, von dem Marxismus sagen, und zwar hier
trotz seines enormen Einflusses, der heute mehr
denn je offen sichtbar ist, auf das öffentliche
Leben. Der Grundfehler des Marxismus ist me-
thodisch ein ähnlicher wie derjenige des Manchester-
tums. Das Manchestertum, das übrigens wissen-
ch schaftlich nie besonders große Bedeutung erlangte,
vollends in Deutschland nicht, glaubte aus einer
methodisch zunächst richtigen isolierenden Betrach-
tung rein wirtschaftlicher Geschehnisse Naturgesetze
ableiten zu können, denen gegenüber sich das mensch-
liche Wollen und Sollen zu beugen habe. Und
diesen Gedanken übertrug Karl Marx auf die
Entwicklungsgeschichte. Er betrachtete das öko-
nomische Werden für sich, losgelöst aus der idealen
Umgebung, was an sich durchaus zulässig war,
verfehlt war aber wiederum die voreilige Schluß-
folgerung, daß das Okonomische der eigentliche
Unterbau der Menschheitsentwicklung überhaupt
sei, dem sich Moral, Sitte, Religion wie Ober-
baue anzufügen hätten. „Die Produktionsweise
des materiellen Lebens bedingt einen sozialen und
politisch geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist
nicht das Bewußtsein des Menschen, das ihr Sein,
sondern ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Be-
wußtsein bestimmt.“
Es braucht wohl kaum besonders gesagt zu
werden, daß eine so gewaltige Geistesbewegung,
wie es der Marxismus geworden ist, nicht ohne
großen Einfluß bleiben konnte auf die Wissen-
schaft, die für ihn der Angelpunkt war. Das
gilt für kein Land mehr als für das Geburts-
land des Marxismus, für Deutschland. Den
Marxismus abzuwehren, war das Entscheidende
für die offizielle deutsche Sozialökonomik im letzten
Drittel des 19. Jahrh. Das wurde verhängnis-
voll für das, was uns in diesem Abschnitt allein
interessiert für die erkenntnistheoretische Grenz-
setzung und für die Forschungsmethoden. Der viel-
fach unklare, nach praktischer Betätigung drängende
Utilarismus, so wie er insbesondere im Verein
für Sozialpolitik eine Pflegstätte fand, hat unsere
Wissenschaft, das wird jetzt fast allgemein an-
erkannt, nicht wesentlich gefördert.
Es ist daher ein großes Verdienst einer Gruppe
von Gelehrten gewesen, die sich um die Oster-
reicher Karl Menger, v. Wieser, Böhm-Bawerk
gruppierten, das Interesse auf tiefer liegende
wissenschaftliche Probleme hinzulenken, um gleich-
zeitig erkenntnistheoretische und methodologisch
neue Anregungen zu geben. Da diese Gelehrten
insbesondere der Werttheorie ihre Aufmerksamkeit
zuwandten und diese auf den Grenznutzen aus-
zubauen versuchten, nennt man sie in der wissen-
schaftlichen Diskusion wohl auch Grenznutzen-
theoretiker. Grenznutzen ist der kleinste wirtschaft-
liche Nutzen, den die zuletzt verzehrte Teilmenge