Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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noch hat, wobei man der Tatsache entscheidendes 
Gewicht beilegt, daß innerhalb jeder Bedürfnis- 
periode jeder hinzukommende Akt der Befriedigung 
minder hoch angeschlagen wird als ein vorauf- 
gehender. Diese subjektive Nutzwerttheorie steht, 
wenigstens so wie sie meist formuliert wird, im 
Gegensatz zu der objektiven Kostenwerttheorie der 
Klassiker. Da man sich bemühte, diese neue Wert- 
theorie zur entscheidenden Grundlage für die ge- 
samte Wirtschaftstheorie zu machen, ergab sich 
methodisch das Bedürfnis von selbst, der psycho- 
logischen Seite der Wirtschaftsprobleme mehr Auf- 
merksamkeit zuzuwenden. Zugleich wurde dabei 
nachdrücklich betont, daß neben der historischen 
Induktion die Analyse und die isolierende Syn- 
these berechtigte Methoden der Wirtschaftstheorie 
seien. Außerhalb Osterreichs war man hauptsächlich 
in den Vereinigten Staaten bemüht, die Volks- 
wirtschaftslehre von der Grenzuutzentheorie aus- 
gehend weiter auszubauen, Clark, Seligmann, 
Fisher, Patten sind die Namen, die da in erster 
Linie zu nennen wären. 
Meinungsverschiedenheiten galt und gilt es 
endlich auch auszukämpfen hinsichtlich des For- 
schungszieles unserer Wissenschaft. Eine neueste 
in Deutschland immer mehr zur Geltung kom- 
mende Richtung bemüht sich hauptsächlich nach 
dieser Richtung neue Orientierung zu geben. 
Den Hauptinhalt dieser Lehre charakterisiere ich 
wohl am besten mit den Worten ihres bedeu- 
tendsten Vertreters: „Es wäre ein anmaßlicher 
Unfug, wenn ein Universitätslehrer sich unter- 
fangen würde, z. B. die „Berechtigung“ irgend- 
welcher sozialer Forderungen zu beweisen, wie 
wenn er ihre „Nichtberechtigung“ mit den Mitteln 
der Wissenschaft nachweisen wollte. Beides ist mit 
den Mitteln der Wissenschaft schlechthin unmög- 
lich" (Max Weber). Mit andern Worten: Über 
das Sollsein zu urteilen, ist nicht Sache der 
wissenschaftlichen Sozialökonomik, deren Aufgaben 
beschränken sich auf die Erkenntnis des wirtschaft- 
lichen Seins nach Ursache und Wirkung. Das 
erscheint auch mir eine dringend notwendige 
Reaktion gegenüber dem derzeit noch herrschenden 
Kathedersozialismus, soweit er als solcher mit 
wissenschaftlichen Ambitionen auftritt. 
Begrenzt man so, wie es hier geschieht, die 
Aufgaben der Volkswirtschaftslehre und die Er- 
kenntnis des wirtschaftlichen Lebens, so wie es 
Volkswirtschaftslehre. 
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zigen Schritt tun, „ohne zuvor der Moral ge- 
huldigt zu haben“. 
Hingewiesen werden muß hier endlich noch dar- 
aus, daß die moderne Logik mancherlei Anregungen 
geboten hat, das der volkswirtschaftlichen 
Methode und erneut kritisch zu 
würdigen. hat die Schrift Rickerts 
„Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs- 
bildung“ (1902) direkt und indirekt hier wesent- 
lich gewirkt. 
III. Entwicklung der Volkswirtschafts- 
lehre als Wissenschaft. Mit Eugen Dühring 
möchten wir uns zu der Ansicht bekennen, daß 
man um so eher geneigt sein wird, den Ursprung 
der Volkswirtschaftslehre in die fernsten Zeiten zu 
verlegen, je dürftiger die Vorstellungen sind, die 
jemand von den wissenschaftlichen Elementen der 
Wirtschaftslehre hat. Gewiß haben große Denker 
des klassischen Altertums auch über wirtschaftliche 
Dinge nachgedacht, und wenigstens bei einem von 
ihnen, bei Aristoteles, kann man schon davon 
sprechen, daß er „wirtschaftliche Theorien“ for- 
muliert hat, aber von einem systematischen volks- 
wirtschaftlichen Erkenntnisstreben kann keine Rede 
sein, ebensowenig wie später etwa bei den Kirchen- 
vätern. Die wirtschaftlichen Anschauungen dieser 
Denker mögen wertvolle Bausteine bilden bei 
Schilderungen des wirtschaftlichen Lebens ihrer 
Zeit, aber für die Entstehung und Entwicklung der 
Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft kommen 
sie nicht in Betracht. 
Dagegen wird man nicht umhin können, die 
merkantilistischen Anschauungen, wie sie in der 
Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrh. verkündet 
wurden, hier zu berücksichtigen, weniger freilich 
wegen des Inhalts der Lehren als wegen der 
Kritik, die diese später erfuhren. Diese Kritik ist 
unzweifelhaft eine der Wurzeln, aus der die eigent- 
liche wissenschaftliche Volkswirtschaftslehre ent- 
standen ist. Praktisch war für den Merkantilismus 
das Entscheidende die staatliche Reglementierung 
aller wirtschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel 
einer Förderung der Industrie in der Hoffnung, 
dadurch eine günstige, aktive Handelsbilanz zu 
erzielen, darum gleichzeitig Förderung der hei- 
mischen Industrie, des eignen Handels, der eignen 
Marine, kolossale Expansion und dabei doch ex- 
treme nationalwirtschaftliche Abschließungspolitik, 
darum ferner einerseits Beseitigung mancher Hemm- 
    
      
  
sich nach Ursache und Wirkung tatsächlich ge= nisse des innern Verkehrs, Anstreben einer wirt- 
staltet, in diesem Sinn auf das Sein, dann ist schaftlichen Gleichberechtigung aller Bürger („Der 
damit schon gesagt, daß die Volkswirtschafts= Absolutismus der Vorbote des Liberalismus"), 
lehre als Wissenschaft, ohne anmaßend zu sein, anderseits weitgehende Staatsintervention, Theorie 
über das praktisch-politische Sollsein nicht urteilen vom beschränkten Untertanenverstand. So sehr das 
darf. Praktische Wirtschaftspolitik muß stets mehr alles für die damalige Zeit als Programm für die 
sein als nur angewandte Volkswirtschaftslehre. praktische Politik im wesentlichen durchaus berech- 
In der Volkswirtschaftslehre hat die Ethik nur tigt war, so verfehlt waren die dabei gleichzeitig 
insofern etwas zu suchen, als sie bei dem tatsäch- verkündeten volkswirtschaftlichen Theorien, die 
lichen Geschehen die wirtschaftliche Erscheinung unzweifelhaft mehr dem Instinkt für momentane 
beeinflußt. Dagegen kann die Politik, nament= Zweckmäßigkeitserwägungen als dem Suchen nach 
lich auch die Volkswirtschaftspolitik, keinen ein- dauernden Werten ihre Entstehung verdanken. Das 
  
 
	        
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