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noch hat, wobei man der Tatsache entscheidendes
Gewicht beilegt, daß innerhalb jeder Bedürfnis-
periode jeder hinzukommende Akt der Befriedigung
minder hoch angeschlagen wird als ein vorauf-
gehender. Diese subjektive Nutzwerttheorie steht,
wenigstens so wie sie meist formuliert wird, im
Gegensatz zu der objektiven Kostenwerttheorie der
Klassiker. Da man sich bemühte, diese neue Wert-
theorie zur entscheidenden Grundlage für die ge-
samte Wirtschaftstheorie zu machen, ergab sich
methodisch das Bedürfnis von selbst, der psycho-
logischen Seite der Wirtschaftsprobleme mehr Auf-
merksamkeit zuzuwenden. Zugleich wurde dabei
nachdrücklich betont, daß neben der historischen
Induktion die Analyse und die isolierende Syn-
these berechtigte Methoden der Wirtschaftstheorie
seien. Außerhalb Osterreichs war man hauptsächlich
in den Vereinigten Staaten bemüht, die Volks-
wirtschaftslehre von der Grenzuutzentheorie aus-
gehend weiter auszubauen, Clark, Seligmann,
Fisher, Patten sind die Namen, die da in erster
Linie zu nennen wären.
Meinungsverschiedenheiten galt und gilt es
endlich auch auszukämpfen hinsichtlich des For-
schungszieles unserer Wissenschaft. Eine neueste
in Deutschland immer mehr zur Geltung kom-
mende Richtung bemüht sich hauptsächlich nach
dieser Richtung neue Orientierung zu geben.
Den Hauptinhalt dieser Lehre charakterisiere ich
wohl am besten mit den Worten ihres bedeu-
tendsten Vertreters: „Es wäre ein anmaßlicher
Unfug, wenn ein Universitätslehrer sich unter-
fangen würde, z. B. die „Berechtigung“ irgend-
welcher sozialer Forderungen zu beweisen, wie
wenn er ihre „Nichtberechtigung“ mit den Mitteln
der Wissenschaft nachweisen wollte. Beides ist mit
den Mitteln der Wissenschaft schlechthin unmög-
lich" (Max Weber). Mit andern Worten: Über
das Sollsein zu urteilen, ist nicht Sache der
wissenschaftlichen Sozialökonomik, deren Aufgaben
beschränken sich auf die Erkenntnis des wirtschaft-
lichen Seins nach Ursache und Wirkung. Das
erscheint auch mir eine dringend notwendige
Reaktion gegenüber dem derzeit noch herrschenden
Kathedersozialismus, soweit er als solcher mit
wissenschaftlichen Ambitionen auftritt.
Begrenzt man so, wie es hier geschieht, die
Aufgaben der Volkswirtschaftslehre und die Er-
kenntnis des wirtschaftlichen Lebens, so wie es
Volkswirtschaftslehre.
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zigen Schritt tun, „ohne zuvor der Moral ge-
huldigt zu haben“.
Hingewiesen werden muß hier endlich noch dar-
aus, daß die moderne Logik mancherlei Anregungen
geboten hat, das der volkswirtschaftlichen
Methode und erneut kritisch zu
würdigen. hat die Schrift Rickerts
„Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung“ (1902) direkt und indirekt hier wesent-
lich gewirkt.
III. Entwicklung der Volkswirtschafts-
lehre als Wissenschaft. Mit Eugen Dühring
möchten wir uns zu der Ansicht bekennen, daß
man um so eher geneigt sein wird, den Ursprung
der Volkswirtschaftslehre in die fernsten Zeiten zu
verlegen, je dürftiger die Vorstellungen sind, die
jemand von den wissenschaftlichen Elementen der
Wirtschaftslehre hat. Gewiß haben große Denker
des klassischen Altertums auch über wirtschaftliche
Dinge nachgedacht, und wenigstens bei einem von
ihnen, bei Aristoteles, kann man schon davon
sprechen, daß er „wirtschaftliche Theorien“ for-
muliert hat, aber von einem systematischen volks-
wirtschaftlichen Erkenntnisstreben kann keine Rede
sein, ebensowenig wie später etwa bei den Kirchen-
vätern. Die wirtschaftlichen Anschauungen dieser
Denker mögen wertvolle Bausteine bilden bei
Schilderungen des wirtschaftlichen Lebens ihrer
Zeit, aber für die Entstehung und Entwicklung der
Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft kommen
sie nicht in Betracht.
Dagegen wird man nicht umhin können, die
merkantilistischen Anschauungen, wie sie in der
Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrh. verkündet
wurden, hier zu berücksichtigen, weniger freilich
wegen des Inhalts der Lehren als wegen der
Kritik, die diese später erfuhren. Diese Kritik ist
unzweifelhaft eine der Wurzeln, aus der die eigent-
liche wissenschaftliche Volkswirtschaftslehre ent-
standen ist. Praktisch war für den Merkantilismus
das Entscheidende die staatliche Reglementierung
aller wirtschaftlichen Verhältnisse mit dem Ziel
einer Förderung der Industrie in der Hoffnung,
dadurch eine günstige, aktive Handelsbilanz zu
erzielen, darum gleichzeitig Förderung der hei-
mischen Industrie, des eignen Handels, der eignen
Marine, kolossale Expansion und dabei doch ex-
treme nationalwirtschaftliche Abschließungspolitik,
darum ferner einerseits Beseitigung mancher Hemm-
sich nach Ursache und Wirkung tatsächlich ge= nisse des innern Verkehrs, Anstreben einer wirt-
staltet, in diesem Sinn auf das Sein, dann ist schaftlichen Gleichberechtigung aller Bürger („Der
damit schon gesagt, daß die Volkswirtschafts= Absolutismus der Vorbote des Liberalismus"),
lehre als Wissenschaft, ohne anmaßend zu sein, anderseits weitgehende Staatsintervention, Theorie
über das praktisch-politische Sollsein nicht urteilen vom beschränkten Untertanenverstand. So sehr das
darf. Praktische Wirtschaftspolitik muß stets mehr alles für die damalige Zeit als Programm für die
sein als nur angewandte Volkswirtschaftslehre. praktische Politik im wesentlichen durchaus berech-
In der Volkswirtschaftslehre hat die Ethik nur tigt war, so verfehlt waren die dabei gleichzeitig
insofern etwas zu suchen, als sie bei dem tatsäch- verkündeten volkswirtschaftlichen Theorien, die
lichen Geschehen die wirtschaftliche Erscheinung unzweifelhaft mehr dem Instinkt für momentane
beeinflußt. Dagegen kann die Politik, nament= Zweckmäßigkeitserwägungen als dem Suchen nach
lich auch die Volkswirtschaftspolitik, keinen ein- dauernden Werten ihre Entstehung verdanken. Das