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trifft auf die Lehren von der Handelsbilanz und
dem geschlossenen Handelsstaat ebenso zu wie auf
die naiven Vorstellungen von dem Wesen und der
Bedeutung des Geldes.
Die Opposition wandte sich zunächst viel stärker
gegen die sozialphilosophischen Grundlagen des
Merkantilismus als gegen dessen sozialökono-
mische Anschauungen. Die staatliche Omnipotenz
fand Widerstand nicht nur in Zweckmäßigkeits-
erwägungen, sondern auch in dem ganzen da-
maligen Zeitgeist. Den Zwang wollte man durch
die Freiheit, das Sozialprinzip durch das Indi-
vidualprinzip verdrängen, um so die „natürliche
Ordnung der Dinge“ zur Herrschaft zu bringen;
dadurch, so folgerte man weiter, werde auch den
wirtschaftlichen Gesamtinteressen am besten gedient.
Quesnay, der Hauptvertreter dieser „physiokra-
tischen“ Richtung, bezeichnete in seinen Maximes
Generales (1758) als oberstes Prinzip der wirt-
schaftlichen Ordnung, „die größtmöglichste Ver-
mehrung der Annehmlichkeiten durch größtmög-
lichste Verminderung der Kosten zu erzielen“.
Dieses Ziel könne aber nur erreicht werden durch
freien Wettbewerb. Ein anderer gleichzeitig leben-
der Physiokrat, Gournay, hat diesem Gedanken in
dem später so unendlich oft wiederholten Schlag-
wort Laissez faire, laissez aller Ausdruck ver-
liehen. Und bestätigend erklärt der große Minister
Turgot, nach Quesnay unzweifelhaft der geistig
bedeutendste Physiokrat, er kenne kein anderes
Mittel, die Industrie zu fördern, „als Befreiung
von allen Steuern, die das mißverstandene Interesse
des Fiskus auf allerlei Waren im Überfluß gelegt
habe“. Dieses Zitat ist auch deshalb charakteristisch,
weil es zeigt, daß schließlich doch auch die Er-
wägungen der Physiokraten in Zweckmäßigkeits-
vorstellungen wurzelten, das Sollsein, nicht das
Sein war der eigentliche Gegenstand ihres Denkens.
Aber für die Erforschung des ökonomischen Seins
war das Auftreten der Physiokraten deshalb doch
von entscheidender Bedeutung, weil ihre ganze
Geistesrichtung einer „natürlichen“ Betrachtung
der wirtschaftlichen Vorgänge, einem gedanklich
isolierenden Herausheben des ökonomischen aus
dem sozialen Gesamtprozeß Vorschub leistete. So
gelingt es denn auch, die ökonomischen Haupt-
irrtümer des Merkantilismus als solche zu er-
kennen. Das Geld, so wird gelehrt, ist nichts als
ein Ubertragungsmittel von Reichtum, der wahre
reelle Reichtum besteht in wirklichen Gebrauchs-
gütern des Lebens. Der merkantilistischen Schi-
märe, der Handel könne nur gewinnreich sein auf
Kosten anderer Nationen, stellt Quesnay die Be-
hauptung entgegen, „ein gerechter und guter Gott
habe gewollt, daß dies unmöglich sei und daß der
Handel, wie er auch ausgeführt würde, immer
nur die Frucht eines offenbar gegenseitigen Vor-
teils wäre“.
Freilich, verführt durch das praktische Ziel, die
allgemein als ungerecht empfundene Verteilung
der Steuern zu reformieren, in Verbindung mit
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl-
Volkswirtschaftslehre.
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der durch die Weltgeschichte erhärteten Tatsache,
daß ein Extrem das andere ablöst, verknüpften die
Physiokraten mit ihrem Namen ein Programm,
das vom Standpunkt der wissenschaftlichen Volks-
wirtschaftslehre betrachtet naiv genug ist. Ich
verweise auf den Artikel „Physiokraten“. Über-
schaut man die gesamtwissenschaftlichen Leistungen
der Physiokraten und deren Resultat, dann wird
man ihnen kaum Unrecht tun, wenn man dahin
urteilt, daß von einer wirklichen wissenschaftlichen
Durchdringung der volkswirtschaftlichen Gesamt-
probleme bei ihnen kaum gesprochen werden kann,
sie sind Vorläufer, nicht Begründer einer wissen-
schaftlichen Nationalökonomie.
Die beiden Engländer David Hume und Adam
Smith sind vielmehr erst die eigentlichen Begrün-
der der Volkswirtschaftslehre als Wissenschaft. Die
volkswirtschaftlichen Essays Humes bekunden eine
solche Feinheit und Klarheit des Denkens, daß
man sie auch heute noch zu dem Besten der volks-
wirtschaftlichen Weltliteratur zählen muß, ja sie
wären vielleicht noch über Adam Smiths Inquiry
zu setzen, wenn es sich eben nicht nur um einzelne
Essays handelte, während das ja gerade Adam
Smiths Werk eine so große Bedeutung errang,
daß er zum erstenmal die gesamten volkswirtschaft-
lichen Vorgänge seiner Zeit wirklich systematisch,
nicht bloß mit dem äußern Schein einer Syste-
matik, zu behandeln bemüht war. Einig sind sich
Hume und Smith darin, daß sie beide die Grund-
ursachen des wirtschaftlichen Werdens nicht ver-
dunkeln lassen wollten durch den Schatten der
Wirkung. „Alles in der Welt“, so sagt Hume,
„wird um Arbeit gekauft, und unsere Bedürfnisse
sind die eigentliche Ursache der Arbeit“, und Adam
Smith beginnt sein klassisches Werk: „Die jähr-
liche Arbeit eines Volks ist der Fonds, welcher
dasselbe ursprünglich mit allen Bedürfnissen und
Annehnmlichkeiten des Lebens versorgt, die es jähr-
lich verbraucht, und die immer entweder in dem
unmittelbaren Erzeugnis dieser Arbeit oder in
demjenigen bestehen, was für dieses Erzeugnis
von andern Völkern gekauft wird.“ Das sind
Sätze, von denen man mit Recht gesagt hat, daß
sie den Eckstein der späteren modernen Systeme
der Volkswirtschaftslehre, soweit sie wirklich wissen-
schaftlichen Wert für sich in Anspruch nehmen
können, gebildet haben. Gewiß wäre manches
Mißverständnis in der Folgezeit unterblieben,
wenn die Epigonen diese Grundgedanken der
Meister nicht nur benutzt hätten, um daran poli-
tische Folgerungen zu knüpfen, sondern vor allem
auch, um sie zu benutzen als Ariadnefaden, der
durch das volkswirtschaftliche Labyrinth den Weg
zu weisen hätte. Das, was Hume und Smith eine
so hervorragende Stellung in unserer Wissenschaft
einräumt, sind im übrigen nicht einzelne glänzende
Theorien, die sich an ihren Namen knüpfen, sondern
es ist die Art, wie sie forschten und wie sie ihre For-
schungen mitzuteilen verstanden, was sie für alle
Zeiten auszeichnen wird. Smith namentlich bahnte
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