Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wirtschaftspolitik als Wissenschaft aus. Für den 
Anhänger einer konservativ realistischen Sozial- 
philosophie ist keine der drei geschilderten Rich- 
tungen annehmbar. Der Standpunkt der historisch- 
ethischen Schule verkennt die methodologische 
Wichtigkeit der Trennung der kausalen und der 
wertenden Methode; indem er die volkswirtschaft- 
lichen Erscheinungen unter dem Gesichtspunkt des 
Seinsollenden betrachtet, gelangt er nicht zum 
Verständnis des Seienden als eines Notwendigen. 
Durch die Verkennung des letzteren verliert er die 
Maßstäbe für die Wertung des Seinsollenden und 
sieht sich gezwungen, dieselben den Zeitmeinungen 
zu entnehmen und mit diesen wechseln zu lassen. 
Hierin berührt er sich mit dem von der öster- 
reichischen Schule eingenommenen Standpunkt, 
der zwar an der Trennung von Volkswirtschafts- 
lehre und Volkswirtschaftspolitik in methodo- 
logischer Beziehung wenigstens grundsätzlich fest- 
halten möchte, aber in gleicher Weise wegen der 
mangelnden philosophischen Grundlegung für die 
Volkswirtschaftspolitik auf den Ersatz durch be- 
grifflich ungeklärte, dem Zeitbewußtsein entlehnte 
Werturteile greifen muß. Hierdurch wird aber 
Volkswirtschaftspolitik als Wissenschaft unmöglich, 
weil ihr der zwingende Charakter ihrer Schluß- 
folgerungen fehlt. Daß der Standpunkt der dritten 
Richtung die Volkswirtschaftspolitik als Wissen- 
schaft von vornherein ausschließt, wurde oben be- 
hauptet. Nun hat allerdings einer der Vertreter 
dieser Richtung, Max Weber, die Volkswirtschafts- 
politik als eine hypothetische Wissenschaft gelten 
lassen. Sie könne zwar nicht Normen für das 
wirtschaftliche Handeln in irgend einer Richtung 
aufstellen, wohl aber die Wege und Mittel weisen, 
durch die die gegebenen wirtschaftspolitischen Rich- 
tungen ihre Ziele erreichen können. Aber es ist 
leicht ersichtlich, daß damit einer Volkswirtschafts- 
politik als selbständiger Wissenschaft der Boden 
entzogen wird. Sie wird eine spezielle Volks- 
wirtschaftslehre, im eigentlichen Sinn eine Kunst- 
lehre. Indem sich diese von der Volkswirtschafts- 
politik als normativer Wissenschaft zurückzieht, 
überläßt sie diese vollständig dem Dilettantismus, 
der sich in ihr ohnedies schon ungebührlich breit 
macht. 
Demgegenüber ist doch die Frage berechtigt, ob 
nicht so wie in der Hierarchie der philosophischen 
Wissenschaften der Ontologie als erster Wissen- 
schaft sich eine aus ihr abgeleitete Ethik anschließt, 
so auch in der Nationalökonomie neben der Wissen- 
schaft von dem Seienden in den wirtschaftlichen 
Beziehungen der Menschen eine aus ihr abgeleitete 
Wissenschaft von dem Seinsollenden, eine Volks- 
wirtschaftspolitik, Daseinsberechtigung hat. Um 
aber diese Ableitung zu ermöglichen, ist es vorerst 
notwendig, daß eine eigne Wissenschaft von dem 
Seienden auf diesem Gebiet klare Erkenntnis ge- 
schaffen hat, und wie es niemand einfallen wird, 
in der Ontologie ethische Probleme zu behandeln, 
so kann wohl auch die Berechtigung der Trennung 
Volkswirtschaftspolitik. 
  
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von Volkswirtschaftslehre und Volkswirtschafts- 
politik als selbständiger Wissenschaften kaum be- 
stritten werden. 
II. Geschichte der Polkswirtschaftspolitik. 
Die Wurzeln der gesellschaftlichen Organisation 
und der gesellschaftlichen Wirtschaft, auf die einzu- 
wirken Aufgabe der Volkswirtschaftspolitik unserer 
Zeit ist, reichen in die früheste Zeit des sog. Mittel- 
alters zurück, also in jene Jahrhunderte, da nach 
Abschluß der großen germanischen Völkerwande- 
rung die wirtschaftliche Landnahme, die Urbar- 
machung des eroberten Bodens einsetzte. Hiermit 
soll nicht bestritten werden, daß auch die gesell- 
schaftliche und wirtschaftliche Kultur der Antike, 
ja noch entfernter liegende Kulturkreise, wie der 
israelitische, durch Vermittlung der Kirche Bau- 
steine zum Aufbau der europäisch-christlichen Kultur 
geliefert haben. Aber Kulturen können nicht über- 
nommen, sie müssen aus der eignen Kraft der 
Völker geschaffen werden. Das Element der Reife 
des eignen Volkstums ist für die „Akkulturation“ 
fremder Kulturbestandteile wesentlich. Auch be- 
züglich der vielumkämpften „Rezeption“ des rö- 
mischen Rechts und der angeblich hierdurch herbei- 
geführten oder beförderten Umbildung unserer 
Wirtschaftsstruktur bricht sich immer mehr die 
Überzeugung durch, daß es sich hierbei um eine 
eigne Kulturschöpfung der germanischen Völker 
gehandelt hat, die Rechtsformen einer Zeit, die in 
ihrer politischen und wirtschaftlichen Struktur 
einige Ahnlichkeit mit dem Entwicklungsstand zur 
Zeit der Rezeption hatte, sich nicht ohne vielseitige 
Umbildung aneignete. 
Der Besitz an gesellschaftlichen und wirtschaft- 
lichen Organisationsformen, den die Germanen 
von dem abtretenden Römerreich übernahmen, 
war nicht so groß, als man sich noch vor wenigen 
Jahrzehnten vorgestellt, da man noch die Anfänge 
des städtischen und gewerblichen Lebens auch auf 
deutschem Boden auf römische lberlieferung zu- 
rückführte. Das römische Westreich hatte sich schon 
in den letzten zwei Jahrhunderten in einer wirt- 
schaftlich rückläufigen Bewegung befunden, die 
von der einfachen Naturalwirtschaft nicht mehr so 
ferne lag. Immerhin gaben die höhere Technik 
der Ackerwirtschaft, die alte Kultur des Bodens 
und die Rechtsformen des Kolonats und der Pre- 
karie den auf römischem Boden angesiedelten Ger- 
manen einen bedeutenden Vorsprung in der kul- 
turellen Entwicklung. Dies brachte es mit sich, 
daß auch die erste große und erfolgreiche deutsche 
Staatsbildung von ehemals römischem Boden aus 
erfolgte, und daß Karl d. Gr., der erste deutsche 
Volkswirtschaftspolitiker großen Stils, in seinem 
berühmten Capitulare de villis unmittelbar an 
römische Einrichtungen anknüpfte. Indem Karl 
in diesem Capitulare zuerst nur für die Bewirt- 
schaftung des Königsguts eingehende und muster- 
hafte Einrichtungen schuf, wirkte er auf den Wirt- 
schaftstypus der Großgrundherrschaft, der in der 
Karolingerzeit zuerst durch den karolingischen Be-
	        
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