Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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amtenadel, dann durch die Bischöfe und Klöster 
im fränkischen und später auch im römisch-deut- 
schen Kaiserreich zur Herrschaft gelangte, vorbild- 
lich ein. Die Umbildung, die in diesem Vorgang 
gipfelt, hat Gierke als den Ubergang von der pa- 
triarchalischen, auf der freien Genossenschaft, dem 
Volksrecht und der Persönlichkeit der rechtlichen 
Beziehungen fußenden Verfassung des germani- 
schen Altertums zur patrimonialen und feudalen 
Verfassung des Mittelalters, in der das Herr- 
schaftsprinzip und die Dinglichkeit der rechtlichen 
Beziehungen anfangs vorherrschen, gekennzeichnet. 
Der Staat der altgermanischen Periode, zuerst 
Geschlechtsverband, wird durch die allmähliche 
Seßhaftmachung, Rodung und Landanbau Wirt- 
schaftsverband, die altgermanische Markgenossen- 
schaft, und erweitert sich zu dem in dieser Periode 
aber noch ausschließlich politischen Zwecken dienen- 
den Volksverband. Während der kleinere Verband 
der Markgenossenschaft überwiegend wirtschafts- 
politische Funktionen, Verteilung der Feldmark 
zum Anbau an die Familien, Reglung des Flur- 
zwangs und der Almendenutzung hat, gleitet das 
ursprünglich nicht genutzte gemeinschaftliche Gau- 
und Volksland allmählich in die Hände der 
Stammesfürsten und Könige über und wird von 
diesen durch seine wirtschaftliche Erschließung zum 
wichtigsten Hebel der politischen Machtkonzentra- 
tion, der Durchsetzung und Schwächung der alten 
gemeinfreien Markgenossenschaften gemacht. Aus 
der freien Dorfgenossenschaft wird die aus Hö- 
rigen, Schollpflichtigen bestehende Hofgenossen- 
schaft, aus der Markgenossenschaft auf dem Weg 
über Grasschaft und Immunität die Grundherr- 
schaft; wie das Volksrecht zum Königsrecht, so 
wird das Recht der Markgenossenschaft zum Hof- 
recht, ihre Organe zu grundherrlichen Beamten. 
Dies bedeutet zugleich einen Fortschritt auf dem 
Weg der Intensivierung der landwirtschaftlichen 
Kultur. Die Grundherrschaft bewirkt im allge- 
meinen den Übergang von roher Feldgraswirt- 
schaft zu geordneter Dreifelderwirtschaft, einem 
System, das in der so außerordentlich konserva- 
tiven Agrarverfassung bis um die Mitte des 
19. Jahrh. das Herrschende gewesen ist und auch 
heute noch in weitem Umfang anzutreffen ist. 
Gleichzeitig wurzeln aber in der Grundherrschaft 
auch die Anfänge der Produktionsteilung zwischen 
Ackerbau und Gewerbe. 
Die Periode der überwiegenden Feudalwirt- 
schaft bis zum 13. Jahrh. ist gekennzeichnet durch 
die Verknüpfung aller subjektiven Rechte mit 
Grund und Boden und die hierarchische Überein- 
anderschichtung dieser persönlich-dinglichen In- 
dividualitäten durch die verschiedensten Leihever- 
hältnisse. Der Prozeß der Urbarmachung des 
Bodens schreitet fort, die großen Kolonisationen 
im slawischen Osten werden durchgeführt. Träger 
der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung 
sind die großen weltlichen Grundherren und die 
kirchlichen Organe und Institute. 
Volkswirtschaftspolitik. 
  
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Während aber erstere, da der Oberbau des 
staatlichen Lebens noch nicht ausgebaut war, ohne 
festorganisierten Zusammenhang nur in den kleinen 
Kreisen ihrer Lehnspflichtigen und Untertanen po- 
litische Wirksamkeit entfalten konnten, war die 
Kirche durch ihre hierarchische Organisation und 
ihren Kulturbesitz das einzig gegebene Organ für 
Aufstellung und Durchsetzung allgemein politischer 
Richtlinien geworden. Sie war damit gezwungen, 
aus der während der absterbenden Antike den 
staatlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen gegen- 
über beobachteten Zurückhaltung herauszutreten. 
Schon Augustins Gottesstaat hatte darauf vor- 
bereitet, indem er die Idee des christlichen Staats, 
dessen Grundlage die der allgemeinen Wohlfahrt 
dienende Gerechtigkeit ist, erörterte. Aber weder 
die kommenden Jahrhunderte mit den Stürmen 
der Völkerwanderung noch die ersten Zeiten des 
römisch-deutschen Kaisertums mit dem großen 
weltgeschichtlichen Kampf zwischen imperium und 
sacerdotium waren geeignet, ihr Nahrung zu 
geben. Noch der Philosoph und Historiker Otto 
von Freising um die Mitte des 12. Jahrh. sieht in 
dem Staatswesen, in dem er lebt, die letzte, tönerne 
Phase des irdischen Staats nach der bekannten 
Danielschen Prophezeiung, das Greisenalter der 
Menschheit, nach dessen Zusammenbruch erst die 
Verwirklichung der Civitas Dei zu erhoffen ist. Die 
Arbeit, die der frühmittelalterliche Katholizismus 
für die Entwicklung der wirtschaftlichen Kultur 
leistete, beruhte also nicht aus Richtlinien wirt- 
schaftspolitischer Entwicklung, die er nicht zu bieten 
hatte, sondern auf dem ethischen Grundsatz der 
Aszese, die im Verein mit der ungebrochenen 
Naturkraft der germanischen Völker die ersten 
Stufen der neuen wirtschaftlichen Entwicklung 
überwand. Dies änderte sich, als von der zweiten 
Hälfte des 12. Jahrh. ab die wirtschaftliche Ent- 
wicklung allmählich aus der reinen Naturalwirt- 
schaft in die produktionsteilige „Stadtwirtschaft" 
hineinwuchs, als die im Fronhof erwachsene Ar- 
beitsteilung zwischen Landbau und Gewerbe durch 
Umbildung des Fronhofs zur Stadt und durch 
die sonstigen zahlreichen, dem fürstlichen Machtbe- 
dürfnis entsprungenen Städtegründungen zur 
räumlichen Trennung der arbeitenden Stände in 
Stadt= und Landbevölkerung führte. Hiermit 
waren die Vorbedingungen für die Entstehung der 
Verkehrs= und Geldwirtschaft erreicht. Hiermit 
war auch das Problem der Einkommensverteilung 
zum erstenmal der patriarchalischen Willkür ent- 
rückt, Gegenstand wirtschaftspolitischer Theorien 
und Gesetzgebung geworden. Jetzt gelangen jene 
wirtschaftspolitischen Grundsätze zur Herrschaft, 
die man als die eigentlich mittelalterlichen anzu- 
sehen gewohnt ist: Mittelstandspolitik durch den 
genossenschaftlichen Aufbau der arbeitenden Stände. 
Die Einungen, Zünfte, Gilden, Bruderschaften, 
oder wie sonst der Name für die städtischen Kor- 
porationen lautete, gewannen dadurch jenes Schwer- 
gewicht und jene Spannkraft, die sie zu Trägern
	        
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