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Wahlmänner und erst diese den Abgeordneten
wählen.
Die Ungleichheit des Wahlrechts kann auch zum
Ausdruck kommen durch Einteilung der Wähler
in bestimmte Klassen (Klassenwahlrechh),
wobei namentlich die Einteilung der Wähler nach
ihrer Steuerleistung in Betracht kommt. Hierbei
kann entweder jede Klasse für sich eigne Abgeord-
nete wählen oder die einzelnen Klassen können
innerhalb eines Bezirks verbunden werden, die
dann zusammen die Abgeordneten wählen. In
letzterem Fall ist das Klassenwahlrecht in der
Regel verbunden mit dem indirekten Wahlver-
fahren, so daß hierbei jede Klasse für sich ihre
eignen Wahlmänner wählt und die Wahlmänner
dann zusammen die Abgeordneten wählen.
Größere Staatsgebiete zerfallen in eine ent-
sprechende Anzahl von Wahlbezirken oder Wahl-
kreisen, von denen jeder selbständig einen oder
mehrere Abgeordnete wählt. Diese können aus
praktischen Gründen wieder in eine Reihe von
Abstimmungsbezirken geteilt sein, um den ein-
zelnen Wählern die Stimmabgabe möglichst zu
erleichtern. Als gewählt gelten diejenigen Kandi-
daten, die entweder die absolute Mehrheit der gül-
tig abgegebenen Stimmen haben, d. h. mehr als
die Hälfte, oder diejenigen, welche die relative
Mojorität haben, also die, welche die meisten
Stimmen haben, auch wenn diese Mehrheit we-
niger als die Hälfte aller gültig abgegebenen
Stimmen beträgt.
Da bei dem Prinzip der absoluten Majorität
unter Umständen recht bedeutende Minderheiten
in der Volksvertretung nicht zur Geltung kommen
würden, hat sich in den letzten Jahrzehnten der
Gedanke auch der Minderheitsvertretungen durch
die sog. Verhältniswahl (Proportional=
wahl) immer mehr Bahn gebrochen. Hierhin ge-
hört zunächst das System der beschränkten
Stimmgebung (vote limité), das Lord Rus-
sell bereits 1854 im englischen Parlament verfocht.
Voraussetzung ist dabei, daß ein Wahlkreis mehrere
Abgeordnete zu wählen hat. Dann darf der einzelne
Wähler nicht für alle Abgeordnete seine Stimme
abgeben, sondern nur für eine bestimmte geringere
Anzahl. Hierbei kann unter Umständen allerdings
auch eine ganz geringe Minderheit den einen oder
andern ihrer Kandidaten durchbringen. Eine Art
Gegenstück dazu ist die Stimmenhäufung
(vote cummulatif), wobei der Wähler, anstatt
jedem einzelnen Kandidaten seine Stimme zu
geben, alle seine Stimmen auf einen vereinigen
kann. Dabei soll es schwächeren Parteien ermög-
licht werden, einzelnen ihrer Kandidaten die er-
forderliche Stimmenzahl zu verschaffen. Ein wei-
teres System des Verhältniswahlrechts stellt eine
Art Rangordnung der einzelnen Kandidaten
auf. Jeder Wähler gibt seine Stimmen so viel
Kandidaten, als Abgeordnete zu wählen sind, wo-
bei dann angenommen wird, daß er dem Kandi-
daten, den er an erster Stelle bezeichnet, seine
Wahlrecht.
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ganze Stimme gibt, dem zweiten seine halbe, dem
dritten nur ein Drittel usf. Durch entsprechende
Zählung werden dann die gewählten Abgeord-
neten festgestellt.
Bei dem Proportionalwahlsystem fragt es sich
weiter, ob der Wähler nur einen Namen oder
Listen wählen darf. Im ersteren Fall kann dann
die einnamige Wahl durch übertragbare
Stimmgebung ergänzt werden, wobei der Wähler
zu dem von ihm gewählten Kandidaten noch einen
Ersatzkandidaten namhaft machen kann. Diese
Ersatzstimme kommt dann in Betracht für den
Fall, daß der erste Kandidat ohnehin die erforder-
liche Stimmenzahl erreicht. Bei der Listenwahl
kann der Wähler soviel Namen auf seine Liste
nehmen, als Abgeordnete zu wählen sind. Hierbei
wird wiederum unterschieden zwischen dem System
der gebundenen Listen und der freien Listen.
Bei dem ersten System sind vor der Wahl den
Behörden Listen mit den Namen der Kandidaten
einzureichen. Bei der Wahl selbst sind dann nur
diejenigen Stimmen gültig, die auf Namen lauten,
welche sich auf einer der vorher eingereichten Listen
befinden. Bei dem System der freien Listen
dagegen ist der Wähler nicht an die Kandidaten
einer bestimmten Parteiliste gebunden, sondern er
kann sich aus den Kandidaten der verschiedenen
Parteilisten selbst eine neue Liste zusammenstellen
(Panachieren genannt) oder auch für sich eine ganz
neue Liste machen. Bei dem System der freien
Listen als solchen besteht ohne weiteres die Mög-
lichkeit der sog. Dekapitierung, d. h. starke Parteien
können eine Anzahl ihrer Wähler abkommandieren
mit der Weisung, ihre Stimmen den auf der geg-
nerischen Liste an letzter Stelle stehenden Kandi-
daten zu geben. Dadurch können diese alsdann
mehr Stimmen bekommen als die an erster Stelle
stehenden Führer, so daß diese infolgedessen bei
der Wahl ausfallen. Dem sucht man dadurch zu
begegnen, daß man die freie Listenwahl durch
die Möglichkeit der Kumulierung, Stimmhäufung
ergänzt. Ebenso will man dem durch die sog.
Stellenwahl, d. h. durch besondere Berück-
sichtigung der Reihenfolge der auf den verschiedenen
Listen bezeichneten Kandidaten, vorbauen. Das
ganze Proportionalwahlsystem hat ebenso viele
begeisterte Anhänger und Verfechter (Thomas
Hare, John Stuart Mill, v. Mohl, Bluntschli,
Varrenstrapp, d'Houdt, Meyr, Gageur, Cahn u. -.),
wie es scharfe Gegner hat (Waitz, Hack, Schäffle,
G. Meyer usw.).
Die Frage, ob Proporz oder nicht, dürfte jeden-
falls nicht für alle Verhältnisse gleichmäßig zu be-
antworten sein. Der Gedanke der Gerechtigkeit
und der Billigkeit, der dem Proporz als solchem
zugrunde liegt, ist jedenfalls anzuerkennen. Die
Proportionalwahlen sind zu befürworten, wenn
es sich um kleinere Wahlbezirke handelt, wo die
Verhältnisse überall dieselben sind, so beispiels-
weise bei Gewerbegerichtswahlen, Krankenkassen-
wahlen u. dgl. Anders dagegen, wenn der Wahl-