Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1033 
Wahlmänner und erst diese den Abgeordneten 
wählen. 
Die Ungleichheit des Wahlrechts kann auch zum 
Ausdruck kommen durch Einteilung der Wähler 
in bestimmte Klassen (Klassenwahlrechh), 
wobei namentlich die Einteilung der Wähler nach 
ihrer Steuerleistung in Betracht kommt. Hierbei 
kann entweder jede Klasse für sich eigne Abgeord- 
nete wählen oder die einzelnen Klassen können 
innerhalb eines Bezirks verbunden werden, die 
dann zusammen die Abgeordneten wählen. In 
letzterem Fall ist das Klassenwahlrecht in der 
Regel verbunden mit dem indirekten Wahlver- 
fahren, so daß hierbei jede Klasse für sich ihre 
eignen Wahlmänner wählt und die Wahlmänner 
dann zusammen die Abgeordneten wählen. 
Größere Staatsgebiete zerfallen in eine ent- 
sprechende Anzahl von Wahlbezirken oder Wahl- 
kreisen, von denen jeder selbständig einen oder 
mehrere Abgeordnete wählt. Diese können aus 
praktischen Gründen wieder in eine Reihe von 
Abstimmungsbezirken geteilt sein, um den ein- 
zelnen Wählern die Stimmabgabe möglichst zu 
erleichtern. Als gewählt gelten diejenigen Kandi- 
daten, die entweder die absolute Mehrheit der gül- 
tig abgegebenen Stimmen haben, d. h. mehr als 
die Hälfte, oder diejenigen, welche die relative 
Mojorität haben, also die, welche die meisten 
Stimmen haben, auch wenn diese Mehrheit we- 
niger als die Hälfte aller gültig abgegebenen 
Stimmen beträgt. 
Da bei dem Prinzip der absoluten Majorität 
unter Umständen recht bedeutende Minderheiten 
in der Volksvertretung nicht zur Geltung kommen 
würden, hat sich in den letzten Jahrzehnten der 
Gedanke auch der Minderheitsvertretungen durch 
die sog. Verhältniswahl (Proportional= 
wahl) immer mehr Bahn gebrochen. Hierhin ge- 
hört zunächst das System der beschränkten 
Stimmgebung (vote limité), das Lord Rus- 
sell bereits 1854 im englischen Parlament verfocht. 
Voraussetzung ist dabei, daß ein Wahlkreis mehrere 
Abgeordnete zu wählen hat. Dann darf der einzelne 
Wähler nicht für alle Abgeordnete seine Stimme 
abgeben, sondern nur für eine bestimmte geringere 
Anzahl. Hierbei kann unter Umständen allerdings 
auch eine ganz geringe Minderheit den einen oder 
andern ihrer Kandidaten durchbringen. Eine Art 
Gegenstück dazu ist die Stimmenhäufung 
(vote cummulatif), wobei der Wähler, anstatt 
jedem einzelnen Kandidaten seine Stimme zu 
geben, alle seine Stimmen auf einen vereinigen 
kann. Dabei soll es schwächeren Parteien ermög- 
licht werden, einzelnen ihrer Kandidaten die er- 
forderliche Stimmenzahl zu verschaffen. Ein wei- 
teres System des Verhältniswahlrechts stellt eine 
Art Rangordnung der einzelnen Kandidaten 
auf. Jeder Wähler gibt seine Stimmen so viel 
Kandidaten, als Abgeordnete zu wählen sind, wo- 
bei dann angenommen wird, daß er dem Kandi- 
daten, den er an erster Stelle bezeichnet, seine 
Wahlrecht. 
  
10384 
ganze Stimme gibt, dem zweiten seine halbe, dem 
dritten nur ein Drittel usf. Durch entsprechende 
Zählung werden dann die gewählten Abgeord- 
neten festgestellt. 
Bei dem Proportionalwahlsystem fragt es sich 
weiter, ob der Wähler nur einen Namen oder 
Listen wählen darf. Im ersteren Fall kann dann 
die einnamige Wahl durch übertragbare 
Stimmgebung ergänzt werden, wobei der Wähler 
zu dem von ihm gewählten Kandidaten noch einen 
Ersatzkandidaten namhaft machen kann. Diese 
Ersatzstimme kommt dann in Betracht für den 
Fall, daß der erste Kandidat ohnehin die erforder- 
liche Stimmenzahl erreicht. Bei der Listenwahl 
kann der Wähler soviel Namen auf seine Liste 
nehmen, als Abgeordnete zu wählen sind. Hierbei 
wird wiederum unterschieden zwischen dem System 
der gebundenen Listen und der freien Listen. 
Bei dem ersten System sind vor der Wahl den 
Behörden Listen mit den Namen der Kandidaten 
einzureichen. Bei der Wahl selbst sind dann nur 
diejenigen Stimmen gültig, die auf Namen lauten, 
welche sich auf einer der vorher eingereichten Listen 
befinden. Bei dem System der freien Listen 
dagegen ist der Wähler nicht an die Kandidaten 
einer bestimmten Parteiliste gebunden, sondern er 
kann sich aus den Kandidaten der verschiedenen 
Parteilisten selbst eine neue Liste zusammenstellen 
(Panachieren genannt) oder auch für sich eine ganz 
neue Liste machen. Bei dem System der freien 
Listen als solchen besteht ohne weiteres die Mög- 
lichkeit der sog. Dekapitierung, d. h. starke Parteien 
können eine Anzahl ihrer Wähler abkommandieren 
mit der Weisung, ihre Stimmen den auf der geg- 
nerischen Liste an letzter Stelle stehenden Kandi- 
daten zu geben. Dadurch können diese alsdann 
mehr Stimmen bekommen als die an erster Stelle 
stehenden Führer, so daß diese infolgedessen bei 
der Wahl ausfallen. Dem sucht man dadurch zu 
begegnen, daß man die freie Listenwahl durch 
die Möglichkeit der Kumulierung, Stimmhäufung 
ergänzt. Ebenso will man dem durch die sog. 
Stellenwahl, d. h. durch besondere Berück- 
sichtigung der Reihenfolge der auf den verschiedenen 
Listen bezeichneten Kandidaten, vorbauen. Das 
ganze Proportionalwahlsystem hat ebenso viele 
begeisterte Anhänger und Verfechter (Thomas 
Hare, John Stuart Mill, v. Mohl, Bluntschli, 
Varrenstrapp, d'Houdt, Meyr, Gageur, Cahn u. -.), 
wie es scharfe Gegner hat (Waitz, Hack, Schäffle, 
G. Meyer usw.). 
Die Frage, ob Proporz oder nicht, dürfte jeden- 
falls nicht für alle Verhältnisse gleichmäßig zu be- 
antworten sein. Der Gedanke der Gerechtigkeit 
und der Billigkeit, der dem Proporz als solchem 
zugrunde liegt, ist jedenfalls anzuerkennen. Die 
Proportionalwahlen sind zu befürworten, wenn 
es sich um kleinere Wahlbezirke handelt, wo die 
Verhältnisse überall dieselben sind, so beispiels- 
weise bei Gewerbegerichtswahlen, Krankenkassen- 
wahlen u. dgl. Anders dagegen, wenn der Wahl-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.