Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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bezirk sich über ein großes Staatsgebiet erstreckt, 
in dem die Verhältnisse oft völlig verschiedenartig 
sind. Ganz abgesehen von andern Bedenken dürften 
sich beispielsweise die Wähler unter Umständen 
doch schwer dazu verstehen, Kandidaten lediglich 
wegen ihrer Parteizugehörigkeit zu wählen, son- 
dern hierbei spielen gar oft auch die Person des 
Kandidaten, die Verhältnisse des engeren Bezirks 
usw. eine große Rolle. Jedenfalls dürfte die Frage 
der Anwendung des Proportionalwahlsystems auf 
die parlamentarischen Wahlen größerer Staats- 
gebiete noch nicht hinreichend geklärt sein, um ein 
definitives Urteil darüber zu sprechen. 
Vereinzelt wird endlich auch jetzt noch die For- 
derung erhoben, die Wahlen nach Ständen 
und Berufsklassen vorzunehmen. Einmal 
dürfte es aber schon ganz unmöglich sein, unsere 
heutige Gesellschafts= und Wirtschaftsordnung in 
eine derartige ständische Organisation einzuglie- 
dern. Anderseits aber würden Vertreter, die aus 
solchen Wahlen hervorgingen, im Parlament nur 
sehr einseitige Interessenpolitik treiben und auch 
rein politische Fragen, die von wirtschaftlichen und 
sozialen Fragen weit abseits liegen, von ihrem 
beschränkten Klassenstandpunkt aus beurteilen. Nur 
Abgeordnete, die aus allgemeinen Wahlen hervor- 
gehen, vermögen sich über einseitige Klasseninter- 
essen zu erheben und alle Fragen mit Rücksicht auf 
das Gesamtwohl von einem höheren und freieren 
Standpunkt aus zu beurteilen. 
Allenthalben ist es üblich, Wählerlisten 
aufzustellen, d. h. Listen, in denen alle diejenigen 
verzeichnet sind, welche jeweils wahlberechtigt sind. 
In der Regel pflegen sie nach den Orten einge- 
richtet zu sein, wo der einzelne wahlberechtigt ist. 
Bei abgestuftem Wahlrecht enthalten sie regel- 
mäßig auch die diesbezüglichen Angaben. Diese 
Listen werden vor den Wahlen oder in bestimmten 
Zwischenräumen zur öffentlichen Einsichtnahme 
ausgelegt, um Einsprüche und Ergänzungen zu 
ermöglichen. 
III. Die Geschichte des Wahlrechts beginnt 
mit der Geburt des konstitutionellen Staatswesens. 
Allerdings hatten sich schon in früheren Zeiten 
bevorrechtigte Stände in den sog. Landständen 
eine Repräsentation geschaffen. Es war dies aber 
in keiner Weise eine Vertretung des Volks. Je 
eher und je härter dieses politische und soziale 
Monopol der privilegierten Stände von dem 
übrigen Volk oder von Teilen desselben empfun- 
den wurde, um so früher und heißer nahm man 
den Kampf dagegen auf, und zwar um so mehr, 
als dieses Parlament der Stände schon gegen 
Ende des Mittelalters in England teilweise aus 
Wahlen hervorging und nicht mehr bloß über 
Landesbeschwerden und Steuerbewilligungen zu 
beraten hatte, sondern auch immer mehr eine Teil- 
nahme an der Gesetzgebung erlangte. England ist 
in diesem Jahrhunderte währenden Verfassungs- 
kampf auch jenes klassische Land, wo zuerst die 
Forderung des allgemeinen Stimmrechts erhoben 
Wahlrecht. 
  
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wurde. Bei den politischen Bewegungen inder ersten 
Hälfte des 17. Jahrh. machten sich unter anderem 
auch Bestrebungen geltend, welche auf eine völlige 
Umgestaltung des Wahlrechts hinausliefen. Als 
am 29. Okt. 1647 der erste Entwurf des agree- 
ment of the people vor dem council of the 
army, einer aus höheren Offizieren und einer 
Anzahl von Subalternoffizieren und Gemeinen 
bestehenden Körperschaft, zur Beratung kam, be- 
gründete Oberst Rainborow die Forderung des 
allgemeinen Stimmrechts damit, daß jeder, der 
unter einer Regierung lebe, sich derselben auch 
selbst unterworfen haben müsse. Selbst der ärmste 
Mann in England sei nicht an seine Regierung 
gebunden, wenn er nicht eine Stimme gehabt 
hätte, um sich unter sie zu stellen. Einen Grund 
dafür, daß ein Lord 20 Bürger, ein Gentleman 
nur 2 und ein armer Mann gar keinen wähle, 
gäbe es nicht, sondern alle diese Beschränkungen 
des Wahlrechts verstießen wider das göttliche und 
das natürliche Recht. Das ganze Volk sei der 
Träger des Gesetzes, deshalb könnten nicht einzelne 
Personen bei der Gesetzgebung ausgeschlossen wer- 
den — dieselbe Begründung für das allgemeine 
Wahlrecht also, mit der man es beinahe 150 Jahre 
später in der französischen Nationalversammlung 
befürwortete. Tatsächlich enthielt das agreement 
of the people in seiner endgültigen Gestalt vom 
15. Jan. 1649 Bestimmungen, die das allgemeine 
Wahlrecht nahezu verwirklichten. Durch die fol- 
genden innern politischen Wirren hat dasselbe je- 
doch keine praktische Verwirklichung gefunden. Die 
Anschauungen von der natürlichen Gleichheit und 
Gleichberechtigung aller Menschen und dem dar- 
aus sich ergebenden allgemeinen Stimmrecht er- 
starben nun nicht mehr, sondern gewannen be- 
sonders später unter dem Einfluß der Schriften 
Lockes und Rousseaus immer mehr an Boden. Die 
französische Revolution brachte mit einem Schlag 
Frankreich das allgemeine Stimmrecht, das aber 
mit seinen indirekten Wahlen und den häufigen 
Veränderungen, die es erlitt, überaus kompliziert 
war. Auf die Verfassungen der übrigen europäi- 
schen Staaten wirkte die französische Revolution 
zunächst nicht unmittelbar ein. In England waren 
es zuerst die Reformanträge, in deren Mittelpunkt 
namentlich Lord Russell und O'Connell standen, 
welche wenigstens einige der schlimmsten Härten 
des englischen Wahlrechts beseitigten. Gerade an 
den Namen des letzteren knüpfen sich ja die Frei- 
heitskämpfe der englischen Katholiken und die Be- 
wegung in Irland, wodurch wenigstens erreicht 
wurde, daß der Eid, der den Katholiken den Ein- 
tritt ins Parlament unmöglich machte, beseitigt 
wurde. Katholische Priester blieben jedoch auch 
jetzt noch vom Parlament ausgeschlossen. Erst die 
Julirevolution in Frankreich und darauf die Er- 
hebung Belgiens waren es, die eine gewaltige 
freiheitliche Strömung in ganz Europa hervor- 
riefen, in deren Verlauf die Macht der privilegier- 
ten Stände und berechtigten Klassen immer mehr
	        
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