Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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gebrochen wurde, und auch die weiten Kreise des 
Volks sich Einfluß auf die gesetzgebenden Körper- 
schaften und die Wege in dieselben errangen. 
In Deutschland brachte die Niederwerfung 
der deutschen Stämme durch Napoleon I. und deren 
darauffolgende Erhebung Fürsten und Volk ein- 
ander näher. Man gab dem Volk die Versicherung, 
das Band zwischen Fürst und Volk sollte durch 
Schaffung von Verfassungen und Volksrepräsen- 
tation enger geschlungen werden. Das deutsche 
Volk seinerseits verlangte gleichfalls ein neues 
Regierungssystem, das, wie Stein sagte, „der 
Nation eine wirksame Teilnahme an der Gesetz- 
gebung zusichert, um hierdurch den Gemeinsinn 
und die Liebe zum Vaterland dauerhaft zu begrün- 
den“. So erklärte denn auch Art. 13 der deutschen 
Bundesakte vom 8. Juni 1815: „In allen Bun- 
desstaaten wird eine landständische Verfassung 
stattfinden.“ Dies ist der Ausgangspunkt des 
gegenwärtigen innern Staatsrechts der einzelnen 
deutschen Bundesstaaten. Doch kaum war die 
Kriegsnot vorüber, als auch schon die Kabinette 
in ihrer dynastischen Selbstsucht die feierlichen Ver- 
sprechungen vergessen hatten, die man dem Volk 
gegeben hatte. Gleichwohl überwand die Idee der 
politischen Freiheit, die immer mächtiger wurde, 
allmählich doch die Reaktion des staatlichen Abso- 
lutismus. In Süddeutschland brach man am 
raschesten und am meisten mit der Vergangenheit. 
Neben Sachsen-Weimar (5. Mai 1816) war es 
zunächst Bayern (26. Mai 1818), Baden (22. Aug. 
und 23. Dez. 1818), Württemberg (25. Sept. 
und 6. und 12. Dez. 1819) sowie Hessen (17. Dez. 
1820), wo man eine geregelte Volksvertretung schuf. 
Eine neue Bewegung trat mit dem Jahr 1848 
ein. Zunächst drang in Frankreich und teilweise 
schon vorher in der Schweiz nicht nur das allge- 
meine, sondern auch das gleiche Stimmrecht durch. 
In Deutschland stellte sich das sog. Vorparlament 
auf denselben Boden. In der Nationalversamm- 
lung kam es über die Frage des allgemeinen, 
gleichen Wahlrechts zu heftigen Kämpfen. Doch 
sämtliche auf eine Beschränkung abzielenden An- 
träge wurden abgelehnt und schließlich das allge- 
meine, gleiche, direkte, geheime Wahlrecht mit er- 
heblicher Mehrheit angenommen. Die „Idee der 
Souveränität des Volks“, welche den Grundton 
der ganzen Bewegung des Jahrs 1848 abgab, 
verklang schon ziemlich bald wieder. Nicht so je- 
doch war es mit dem Streben des Volks, den 
früheren Polizeistaat in einen Rechtsstaat umzu- 
wandeln, in dem auch dem Volk eine Erweiterung 
oder klare Umschreibung seiner Rechte zu teil würde. 
Anderseits suchte die staatliche Reaktion auch jetzt 
wieder sich möglichst geltend zu machen. Zuerst 
trat dieser Rückschlag in Preußen ein. Ahnlich und 
teilweise noch schlimmer ging es in den andern 
deutschen Staaten. 
Mit den 1860er Jahren setzt die neueste Ent- 
wicklung des parlamentarischen Wahlrechts ein, 
die ein weiteres Vordringen des allgemeinen 
Wahlrecht. 
  
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Stimmrechts bedeutet. Der Norddeutsche Bund 
knüpfte direkt an das Reichswahlgesetz des Jahrs 
1849 an. Nachdem dieser bei der Beratung des 
Verfassungsentwurfs dem allgemeinen, gleichen, 
direkten Wahlrecht mit großer Mehrheit zuge- 
stimmt hatte, wurde es am 31. Mai 1869 zum 
Bundesgesetz erhoben. Dieses Wahlgesetz wurde 
dann bei der Begründung des neuen Deutschen 
Reichs in dieses mit herübergenommen. 
IV. Im Deutschen Reich geht der Reichstag 
nach Art. 20 der Verfassung vom 16. April 1871 
aus allgemeinen, gleichen und direkten Wahlen mit 
geheimer Abstimmung hervor. Die Grundlage des 
Reichstagswahlrechts bildet das Wahlgesetz zum 
Reichstag des Norddeutschen Bunds, das durch 
Bündnisverträge mit den süddeutschen Staaten 
auch auf diese ausgedehnt wurde. Als Vorschriften 
zur Wahl selbst kommen in Betracht das Regle- 
ment zur Ausführung des Wahlgesetzes vom 
31. Mai 1869 resp. vom 28. Mai 1870 mit 
Nachträgen vom 27. Febr. 1871, 24. Jan. 1872, 
20. Juni und 1. Dez. 1873 sowie die Bekannt- 
machung vom 28. April 1903. 
Wahlberechtigt ist jeder Deutsche, welcher 
das 25. Lebensjahr zurückgelegt hat. Erforderlich 
zur Ausübung des aktiven Wahlrechts ist also die 
Reichsangehörigkeit, männliches Geschlecht und 
die Vollendung des 25. Lebensjahrs. Ausge- 
schlossen von der Berechtigung zum Wählen sind: 
1) Personen, welche unter Vormundschaft oder 
Kuratel stehen; 2) Personen, über deren Ver- 
mögen Konkurs= oder Fallitzustand gerichtlich er- 
öffnet ist, und zwar für die Dauer dieses Kon- 
kurs= oder Fallitverfahrens; 3) Personen, welche 
eine Armenunterstützung aus öffentlichen oder Ge- 
meindemitteln beziehen oder im letzten der Wahl 
vorhergegangenen Jahr bezogen haben (nach dem 
Reichsgesetz vom 15. März 1909 gelten jedoch 
nicht als Armenunterstützung: a) Krankenunter- 
stützung; b) die zurückgezahlten Unterstützungen; 
) vereinzelte Leistungen zur Hebung einer augen- 
blicklichen Notlage; d) Anstaltspflege eines 
Angehörigen wegen körperlicher und geistiger Ge- 
brechen; e) Unterstützung zum Zweck der Jugend- 
fürsorge, der Erziehung oder Ausbildung für einen 
Beruf. In allen diesen Füällen tritt also eine Min- 
derung der politischen Rechte nicht ein); endlich 
4) Personen, denen infolge rechtskräftigen Erkennt- 
nisses der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte 
entzogen ist, für die Zeit der Entziehung. Das 
aktive Wahlrecht ruht, d. h. seine Ausübung ist 
suspendiert bei Personen des Soldatenstands und 
der Marine so lange, als dieselben sich bei der 
Fahne befinden. Ebenso ruht das Wahlrecht bei 
denjenigen Personen, die zwar Reichsangehörige 
sind, aber keinen Wohnsitz in einem Bundesstaat 
haben, sowie bei denjenigen, welche irrtümlicher- 
weise nicht in die Wählerlisten eingetragen sind. — 
Wählbar zum Abgeordneten ist jeder, der das 
aktive Wahlrecht besitzt und einem Bundesstaat 
seit mindestens einem Jahr angehört hat, also auch
	        
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