Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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lich, ob er die Ausübung des völkerrechtlichen 
Zwangs gegen den andern Vertragsteil für er- 
forderlich oder für nützlich erachtet. 
Daß man auch die mit einer zwar nicht mit 
einem Staatsgebiet ausgestatteten, aber an und 
für sich dem Staat nicht unter-, sondern nur ein- 
geordneten Macht eingegangenen Verträge zu 
achten hat, wenn dieselbe auch keine äußeren Macht- 
mittel besitzt, durch deren Anwendung sie die Er- 
füllung der ihr gemachten Versprechungen zu er- 
zwingen vermag, ist selbstverständlich. Es sind 
demnach alle von Staatsregierungen mit den legi- 
timen Vertretern der verschiedenen christlichen Re- 
ligionsbekenntnisse, wenn diese eine von 
der weltlichen Macht unabhängige Organisation 
haben, eingegangenen vertragsmäßigen Verbind- 
lichkeiten als dieselben durchaus bindende zu be- 
trachten. So hat auch das sog. italienische Garantie- 
gesetz vom Jahr 1871 dem Papst die Unabhängig- 
keit eines weltlichen Souveräns ausdrücklich zu- 
erkannt. Der Papst in seiner gegenwärtigen Lage 
kann keine Armeen senden und keine Gegenmaß- 
regeln weltlicher Natur in Anwendung bringen, 
um die Erfüllung der ihm gemachten Zugeständ- 
nisse herbeizuführen; es ist auch wiederholt ge- 
schehen, daß die mit ihm geschlossenen Überein- 
kommen verletzt oder gar nicht ausgeführt wurden. 
Man denke nur an das im Jahr 1857 mit 
Württemberg und das im Jahr 1859 mit Baden 
abgeschlossene Konkordat, welche beide infolge des 
in den Abgeordnetenkammern beider Länder er- 
hobenen Widerspruchs nicht zur Durchführung 
gelangten, ohne daß die betreffenden Regierungen 
hierbei ihre völkerrechtliche Pflicht voll erfüllt 
hätten. Ahnlich liegt die Sache mit dem Kon- 
kordat, das im Jahr 1855 Osterreich mit dem 
Apostolischen Stuhl geschlossen; trotz der vertrags- 
mäßig übernommenen Pflichten wurden im Jahr 
1868 die sog. konfessionellen Gesetze erlassen und 
1870 das gesamte Konkordat außer Kraft gesetzt. 
In den Fällen, in welchen es sich um Uberein- 
kommen zwischen Kirche und Staat handelt, muß 
eben die öffentliche Meinung und die Geltend- 
machung derselben durch die erwählten Volks- 
vertreter in den parlamentarischen Versammlungen 
dasjenige leisten und zuweg bringen, was behufs 
der Sicherung der Durchführung der zwischen 
verschiedenen Staaten abgeschlossenen Verträge die 
Machtstellung der Vertragsteile und insbesondere 
der Besitz einer starken bewaffneten Macht zu voll- 
bringen berufen ist. Eine gewaltige Strömung 
der öffentlichen Meinung vermag, wenigstens 
unter gewissen Umständen, ebensoviel zu leisten, 
um den Ubereinkommen, welche zwischen den Ver- 
tretern der geistlichen und der weltlichen Macht 
geschlossen werden, den Charakter und die ganze 
verbindliche Kraft von Staatsverträgen zu er- 
halten und sie gegen jeden auf sophistischer Be- 
weisführung beruhenden Angriff zu sichern, als 
das Einschreiten mächtiger Staatsregierungen und 
gewaltiger Armeen behufs Durchführung der den 
Staatsverwaltung ufsw. 
  
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weltlichen Mächten aus von ihnen abgeschlossenen 
Staatsverträgen erwachsenen Rechte durchzusetzen 
vermag. So viel ist aber unter allen Umständen 
festzuhalten, daß die zwischen der selbständigen 
geistlichen und der weltlichen Macht abgeschlossenen, 
beiderseitig bindenden Ubereinkünfte zu den Staats- 
verträgen zu rechnen sind und für die Staats- 
regierungen einen ganz ebenso verbindlichen Cha- 
rakter besitzen wie die übrigen von denselben ab- 
geschlossenen Abmachungen dieser Art. — Vgl. 
auch d. Art. Völkerrecht. 
Literatur. Gareis, Institutionen des Völker- 
rechts (21901); Liszt, Völkerrecht (61910); Ull- 
mann, Völkerrecht (71908); Rivier, Lehrbuch des 
Völkerrechts (21899); Laband, Staatsrecht des 
Deutschen Reichs II (11901) 114; Jellinek, Rechtl. 
Natur der S. (1880); Nippold, Völkerrechtl. Ver- 
trag (1894); Rieß, Die Mitwirkung der gesetz- 
gebenden Körperschaften bei S. (1904). 
Sammlungen von S.: Recueil des traités, 
Quellenmaterial von 1761 an, begr. von G. F. 
de Martens, fortgesetzt unter verschiedenen Titeln 
von Carl v. Martens, F. Saalfeld, F. Murhard, 
Ch. Murhard, J. Pinhas, Karl Samwer, bis 
1874 im ganzen 47 Bde, dazu ein chronol. u. ein 
alphab. Registerband (Table générale, 1875,76); 
1876/1908 erschien eine zweite Serie als Nouveau 
Recueil général de traités et autres actes re- 
latifs aux rapports du droit international in 
35 Bden, hrsg. von Karl Samwer u. Jul. Hopf 
(bis Bd 11), dann von Felix Stoerk; seit 1908 
erscheint eine dritte Serie (Titel wie die 2. Serie), 
hrsg. von Heinrich Trippel. — „Staatsarchiv“, 
Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Geschichte 
der Gegenwart, begr. 1861 von Agidi u. Klau- 
hold, hrsg. von Gust. Roloff (1910: 78 Bde); Ar- 
chives diplom. von Renault u. Fardis (seit 1861); 
Recueil internat. des traités du 20° sièche von 
Descamps u. L. Renault, enthält alle Verträge u. 
Schiedssprüche seit 1901 (Par., jährl.); Plason de 
la Woestyne, Recueil des traites et conventions 
concluses par L'Autriche-Hongrie avec les puis- 
sances Etrangeres (Wien, 1909: 30 Bde); Ge- 
setze u. Verträge über Post= u. Schiffahrtslinien in 
den Seestaaten der Erde (2 Tle, 1904); de Lapra- 
delle u. Politis, Recueil des arbitrages internat., 
1 Tl (1798/1855, Par. 1905). Fleischmann, 
Völkerrechtsquellen (1905). 
[Kämpfe, rev. Coermann.] 
Staatsverwaltung und Selbstver- 
waltung. I. Die Staatsverwaltung. 1.Be- 
griff. Als Staatsverwaltung im weitesten 
Sinn kann man alle diejenigen Handlungen 
des Staats bezeichnen, welche die Wahrneh- 
mung aller seiner Interessen zum Gegenstand 
haben, und deren Art und Umfang durch den 
Grad der geistigen Kultur der im Staat verbun- 
denen Menschen und die äußeren Verhältnisse, 
unter denen sie leben, bestimmt wird. Tritt einer 
oder treten einige dieser Zwecke der Staatsverwal- 
tung in besonderer Weise hervor, so erhält der 
Staat dadurch ein besonderes Gepräge; so war 
das Streben nach Vergrößerung ausschlaggebend 
für das Walten des römischen Staals, der Krieg 
für das Lakedämons, die Religion für das des
	        
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