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lich, ob er die Ausübung des völkerrechtlichen
Zwangs gegen den andern Vertragsteil für er-
forderlich oder für nützlich erachtet.
Daß man auch die mit einer zwar nicht mit
einem Staatsgebiet ausgestatteten, aber an und
für sich dem Staat nicht unter-, sondern nur ein-
geordneten Macht eingegangenen Verträge zu
achten hat, wenn dieselbe auch keine äußeren Macht-
mittel besitzt, durch deren Anwendung sie die Er-
füllung der ihr gemachten Versprechungen zu er-
zwingen vermag, ist selbstverständlich. Es sind
demnach alle von Staatsregierungen mit den legi-
timen Vertretern der verschiedenen christlichen Re-
ligionsbekenntnisse, wenn diese eine von
der weltlichen Macht unabhängige Organisation
haben, eingegangenen vertragsmäßigen Verbind-
lichkeiten als dieselben durchaus bindende zu be-
trachten. So hat auch das sog. italienische Garantie-
gesetz vom Jahr 1871 dem Papst die Unabhängig-
keit eines weltlichen Souveräns ausdrücklich zu-
erkannt. Der Papst in seiner gegenwärtigen Lage
kann keine Armeen senden und keine Gegenmaß-
regeln weltlicher Natur in Anwendung bringen,
um die Erfüllung der ihm gemachten Zugeständ-
nisse herbeizuführen; es ist auch wiederholt ge-
schehen, daß die mit ihm geschlossenen Überein-
kommen verletzt oder gar nicht ausgeführt wurden.
Man denke nur an das im Jahr 1857 mit
Württemberg und das im Jahr 1859 mit Baden
abgeschlossene Konkordat, welche beide infolge des
in den Abgeordnetenkammern beider Länder er-
hobenen Widerspruchs nicht zur Durchführung
gelangten, ohne daß die betreffenden Regierungen
hierbei ihre völkerrechtliche Pflicht voll erfüllt
hätten. Ahnlich liegt die Sache mit dem Kon-
kordat, das im Jahr 1855 Osterreich mit dem
Apostolischen Stuhl geschlossen; trotz der vertrags-
mäßig übernommenen Pflichten wurden im Jahr
1868 die sog. konfessionellen Gesetze erlassen und
1870 das gesamte Konkordat außer Kraft gesetzt.
In den Fällen, in welchen es sich um Uberein-
kommen zwischen Kirche und Staat handelt, muß
eben die öffentliche Meinung und die Geltend-
machung derselben durch die erwählten Volks-
vertreter in den parlamentarischen Versammlungen
dasjenige leisten und zuweg bringen, was behufs
der Sicherung der Durchführung der zwischen
verschiedenen Staaten abgeschlossenen Verträge die
Machtstellung der Vertragsteile und insbesondere
der Besitz einer starken bewaffneten Macht zu voll-
bringen berufen ist. Eine gewaltige Strömung
der öffentlichen Meinung vermag, wenigstens
unter gewissen Umständen, ebensoviel zu leisten,
um den Ubereinkommen, welche zwischen den Ver-
tretern der geistlichen und der weltlichen Macht
geschlossen werden, den Charakter und die ganze
verbindliche Kraft von Staatsverträgen zu er-
halten und sie gegen jeden auf sophistischer Be-
weisführung beruhenden Angriff zu sichern, als
das Einschreiten mächtiger Staatsregierungen und
gewaltiger Armeen behufs Durchführung der den
Staatsverwaltung ufsw.
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weltlichen Mächten aus von ihnen abgeschlossenen
Staatsverträgen erwachsenen Rechte durchzusetzen
vermag. So viel ist aber unter allen Umständen
festzuhalten, daß die zwischen der selbständigen
geistlichen und der weltlichen Macht abgeschlossenen,
beiderseitig bindenden Ubereinkünfte zu den Staats-
verträgen zu rechnen sind und für die Staats-
regierungen einen ganz ebenso verbindlichen Cha-
rakter besitzen wie die übrigen von denselben ab-
geschlossenen Abmachungen dieser Art. — Vgl.
auch d. Art. Völkerrecht.
Literatur. Gareis, Institutionen des Völker-
rechts (21901); Liszt, Völkerrecht (61910); Ull-
mann, Völkerrecht (71908); Rivier, Lehrbuch des
Völkerrechts (21899); Laband, Staatsrecht des
Deutschen Reichs II (11901) 114; Jellinek, Rechtl.
Natur der S. (1880); Nippold, Völkerrechtl. Ver-
trag (1894); Rieß, Die Mitwirkung der gesetz-
gebenden Körperschaften bei S. (1904).
Sammlungen von S.: Recueil des traités,
Quellenmaterial von 1761 an, begr. von G. F.
de Martens, fortgesetzt unter verschiedenen Titeln
von Carl v. Martens, F. Saalfeld, F. Murhard,
Ch. Murhard, J. Pinhas, Karl Samwer, bis
1874 im ganzen 47 Bde, dazu ein chronol. u. ein
alphab. Registerband (Table générale, 1875,76);
1876/1908 erschien eine zweite Serie als Nouveau
Recueil général de traités et autres actes re-
latifs aux rapports du droit international in
35 Bden, hrsg. von Karl Samwer u. Jul. Hopf
(bis Bd 11), dann von Felix Stoerk; seit 1908
erscheint eine dritte Serie (Titel wie die 2. Serie),
hrsg. von Heinrich Trippel. — „Staatsarchiv“,
Sammlung der offiziellen Aktenstücke zur Geschichte
der Gegenwart, begr. 1861 von Agidi u. Klau-
hold, hrsg. von Gust. Roloff (1910: 78 Bde); Ar-
chives diplom. von Renault u. Fardis (seit 1861);
Recueil internat. des traités du 20° sièche von
Descamps u. L. Renault, enthält alle Verträge u.
Schiedssprüche seit 1901 (Par., jährl.); Plason de
la Woestyne, Recueil des traites et conventions
concluses par L'Autriche-Hongrie avec les puis-
sances Etrangeres (Wien, 1909: 30 Bde); Ge-
setze u. Verträge über Post= u. Schiffahrtslinien in
den Seestaaten der Erde (2 Tle, 1904); de Lapra-
delle u. Politis, Recueil des arbitrages internat.,
1 Tl (1798/1855, Par. 1905). Fleischmann,
Völkerrechtsquellen (1905).
[Kämpfe, rev. Coermann.]
Staatsverwaltung und Selbstver-
waltung. I. Die Staatsverwaltung. 1.Be-
griff. Als Staatsverwaltung im weitesten
Sinn kann man alle diejenigen Handlungen
des Staats bezeichnen, welche die Wahrneh-
mung aller seiner Interessen zum Gegenstand
haben, und deren Art und Umfang durch den
Grad der geistigen Kultur der im Staat verbun-
denen Menschen und die äußeren Verhältnisse,
unter denen sie leben, bestimmt wird. Tritt einer
oder treten einige dieser Zwecke der Staatsverwal-
tung in besonderer Weise hervor, so erhält der
Staat dadurch ein besonderes Gepräge; so war
das Streben nach Vergrößerung ausschlaggebend
für das Walten des römischen Staals, der Krieg
für das Lakedämons, die Religion für das des