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„Christlichen Welt“ vom 23. Jan. 1908) Adolf
Dörrfuß zu dem Ergebnis, „daß es eine psycho-
logische Unmöglichkeit ist, in seinem Katholizis-
mus nur eine Maske zu sehen“.
Schon im konstituierenden Reichstag machte
bei der Generaldebatte über die neue Bundes-
verfassung Windthorst in Verbindung mit v. Mal-
linckrodt und einigen andern Katholiken den (ver-
geblichen) Versuch, die Aufnahme der die Freiheit
und Selbständigkeit der katholischen Kirche ge-
währleistenden Artikel der preußischen Verfassung
in die Verfassung des Norddeutschen Bundes durch-
zusetzen.
Sowenig nach allem dem ein Zweifel an der
katholischen Uberzeugungstreue Windthorsts zu
irgend einer Zeit seines politischen Wirkens be-
rechtigt erscheint, so würde man anderseits seiner
Individualität nicht gerecht werden ohne die Fest-
stellung, daß die Betätigung seiner Religiosität
schlicht und einfach war wie sein ganzes Wesen, und
daß ihm nichts ferner lag als Fanatismus und
UÜberschwenglichkeit. Gegen schwarmgeisterische An-
wandlungen hatte er aus seiner nüchtern nieder-
sächsischen Anschauungsweise heraus einen aus-
geprägten Widerwillen, die Vertreter jener Rich-
tung waren ihm unsympathisch. Ohne jemals ein
katholisches Prinzip zu verleugnen, mied er un-
fruchtbare Prinzipienreiterei; man wird z. B. keine
Kundgebung Windhorsts anführen können, in
welcher er Ideen des mittelalterlichen Staats-
kirchenrechts als auf die Gegenwart schlechthin
übertragbar anerkannt oder empfohlen hätte.
Mit dem Frieden unter den Konfessionen nahm
Windthorst es sehr ernst. Was er in seinem ersten
Zusammenstoß mit dem Fürsten Bismarck am
30. Jan. 1872 im preußischen Abgeordnetenhaus
aussprach: „Ich wünsche nichts, als daß wir in
die Lage kämen, endlich die kirchlichen Diskussionen
aus unsern Versammlungen zu entfernen, damit
wir in Ruhe und Frieden gemeinsam an dem Haus
bauen könnten, in dem wir ja gemeinsam wohnen
sollen, in dem Haus, welches groß genug ist, um
allen freie Bewegung zu lassen“ — war ihm Richt-
schnur für sein gesamtes kirchenpolitisches Ver-
halten. Auf der Generalversammlung der Katho-
liken Deutschlands zu Bochum (1889) erklärte er:
„Die Kontroversfragen der Konfessionen gehören
nicht in die politische Agitation, sondern in die
wissenschaftliche Diskussion, in den Katechismus-
unterricht und auf die Kanzel, und auch da werden
sie auf beiden Seiten in einer würdigen und an-
gemessenen Sprache zu behandeln sein.“ Unnötige
Betonung der konfessionellen Gegensätze im Parla-
ment erschien ihm in hohem Grad verwerflich.
Für die Rücksichten, welche ihre Minderheits-
stellung den Katholiken im Deutschen Reich und in
Preußen auferlegt, hatte er stets ein feines Ge-
fühl; die Verhaltungslinie in den kirchenpolitischen
Kämpfen formulierte er in dem Satz: Nie aggres-
siv, immer verteidigend, aber mit Energie ver-
Windthorst.
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ordnetenhauses vom 27. Febr. 1873 trat er nach-
drücklich für den durch die ganze Geschichte deutscher
Kirchenentwicklung gehenden Grundsatz ein, „daß
jede Konfession ihre Sache selbst und allein be-
sorgt“. Bei den verschiedensten Gelegenheiten und
mit der größten Entschiedenheit betonte er immer
wieder, daß die Zentrumsfraktion keine konfessio-
nelle Fraktion sei. d. h. wie Mausbach (Die katho-
lische Moral und ihre Gegner (19111 380) sich
ausdrückt, eine solche, „welche die allgemeinen poli-
tischen Zwecke vom Standpunkt eines bestimmten
Bekenntnisses aus verfolgt“, welche dies dann
freilich durch ihren Namen oder ihr Programm
zu erkennen geben müßte und die vollen Rechte
eines Partei= und Fraktionsmitglieds nur An-
gehörigen dieses Bekenntnisses zugestehen könnte.
„Das Zentrum, wie es tatsächlich entstand und
besteht, wie es geschichtlich sich entwickelte,
einwurzelte und bewährte, ist nicht eine solche
Partei.“ Als bei den Verhandlungen des preußi-
schen Abgeordnetenhauses vom 30. und 31. Jan.
1872 Ministerpräsident Bismarck bemerkte, er
habe es als eine der ungeheuerlichsten Erschei-
nungen auf politischem Gebiet betrachtet, daß
sich eine konfessionelle Fraktion in einer poli-
tischen Versammlung bildete, erwiderte Windt-
horst: „Die Fraktion des Zentrums, welcher ich
angehöre, ist keine konfessionelle. Das Programm
derselben ist öffentlich bekannt gemacht worden,
wir haben auf Grund desselben jeden eingeladen,
der diese Grundsätze alzeptieren kann und will,
und wer darauf akzeptierend eintritt, ist uns will-
kommen.“ Auf die Zugehörigkeit protestantischer
Mitglieder zum Zentrum legte Windthorst den
größten Wert, und bei den festlichen Anlässen,
welche die Fraktion vereinigten, versäumte er nie-
mals, der Andersgläubigen, namentlich der deutsch-
hannoverschen Hospitanten besonders zu gedenken.
Wenn in den letzten Jahren der Versuch gemacht
worden ist, Windthorsts Autorität für eine „De-
finition“ des Zentrums in Anspruch zu nehmen,
welche den nichtkonfessionellen Charakter des Zen-
trums als Fraktion in Frage stellte, so ist diese In-
anspruchnahme mit Recht als irreleitend abgewiesen
worden. Das Definieren, Spintisieren und Apriori-
konstruieren war überhaupt niemals Windthorsts
Sache. So verhielt er sich auch durchaus ablehnend
gegenüber den sog. Haider Thesen, welche ein all-
gemein gültiges katholisch-soziales Programm zu
formulieren beanspruchten. Die Vorlage dieses
Programms auf der Düsseldorfer Generalver=
sammlung der Katholiken Deutschlands (1883)
verhinderte er durch die kategorische Erklärung, daß
er in diesem Fall sofort abreisen werde.
Windthorst erkannte klar, daß auf dem Boden
unserer modernen Verfassungsstaaten eine konfes-
sionelle parlamentarische Gruppe keine Daseins-
berechtigung und nicht die Möglichkeit dauernd
erfolgreichen Wirkens hat, während eine poli-
tische nicht konfessionelle Partei in wirksamer Weise
teidigend. In der Sitzung des preußischen Abge- auf dem parlamentarischen Boden die Rechts-