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zu geben, die bewährten Einrichtungen immer
weiteren Kreisen zugänglich zu machen.
Eine bedeutsame Einrichtung ist auch das nach
dem Vorbild des Pariser Musée Social einge-
richtete und gleichermaßen der städtischen und länd-
lichen Wohlfahrtspflege seine Aufmerksamkeit wid-
mende „Soziale Museum“ in Frankfurt a. M.,
welches die Anregung zu seiner Gründung vom
dortigen „Institut für Gemeinwohl“ empfing und
aus diesem und dem Verein für Arbeitswoh-
nungswesen usw. für Hessen-Nassau hervorging.
Das Museum hat den Zweck, den auf sozialem
Gebiet Tätigen, besonders auch den in den staat-
lichen und städtischen Verwaltungen beschäftigten
Beamten als Sammel= und Vorbereitungsstelle,
als eine Art Seminar für theoretische und
praktische Schulung auf dem Gebiet der Wohl-
fahrtspflege zur Verfügung zu stehen, indem es
seine Wirksamkeit ausdehnt auf Sammlung aller
erforderlichen Materialien zur Pflege der sozialen
Heimatkunde, Bereitstellung der Sammlung durch
leihweise Uberlassung und Veröffentlichung im
eignen Organ, Förderung der sozialen Tätigkeit
durch Auskunftserteilung, Vorträge, Mitwirkung
bei Gründung und Geschäftsführung sozialer Ein-
richtungen, Erörterung praktischer sozialer Fragen
in Versammlungen von Sachverständigen und
Interessenten, mit einem Wort: Zurverfügung-
stellen von Kräften und Mitteln der gemeinnützigen
Arbeit in Stadt und Land. Das „Soziale Mu-
seum“ bietet Statuten, Verwaltungsberichte, Ge-
setze. Verordnungen, statistische Ubersichten, Bro-
schüren, Pläne von Arbeiterwohnungen, Modelle
von Schutzvorrichtungen an Maschinen, gewerbe-
hygienisches Material usw.
Der Ausbau des Wohlfahrtswesens ist auf
Grundlage lebhafter Erfassung des solidaristischen
Gedankens in erfreulicher Entwicklung begriffen
und berechtigt bei der immer mehr steigenden
Schärfung des sozialen Gewissens zu den besten
Hoffnungen für das Wohl der nach Lage unserer
bestehenden Gesellschaftsordnung auf den Ausbau
der sozialen Gesetzgebung und auf die im Geist
brüderlicher Liebe geschaffenen Einrichtungen für
die Gestaltung erträglichen Lebensloses Ange-
wiesenen.
Literatur. v. Erdberg, W. (1903); als
Schriften der Zentralstelle kommen in Betracht:
Organisation der W. (1907); Programm der W.
(1908); Zentralstelle für Volkswohlfahrt, ihre Or-
ganisation u. ihr Tätigkeitsbereich (1909); Al-
brecht, Handbuch der sozialen W. in Deutschland
(1902); ders., Handbuch der praktischen Gewerbe-
hygiene (1905); Sohnrey, Wegweiser für ländliche
Wohlfahrts- u. Heimatpflege (31908); Thyssen-
Trimborn, Soziale Tätigkeit der Stadtgemeinden
(1910); Liese, Hauswirtschaftliches Bildungswesen
in Deutschland (71910); Faßbender, Die Ernährung
des Menschen in ihrer Bedeutung für Wohlfahrt
u. Kultur (1906); Gnauck-Kühne, Soziales Ge-
meinschaftsleben im Deutschen Reich (1910); Singer,
Soziale Fürsorge (1904); die beiden Serien der
Wohnungsfrage.
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Schriften der Zentralstelle für Volkswohlfahrt in
Berlin. LFaßbender.])
Wohnungsfrage. Die Wohnungsfrage,
als ein besonders wichtiger Teil der sozialen
Frage, umfaßt die Gesamtheit der im Wohn-
wesen eines Volks bestehenden Mißstände und ist
eine Kulturfrage ersten Rangs wegen der hohen
Bedeutung der Wohnung für die gesundheitlichen
und sittlichen Zustände der Insassen, für Familien-
leben und Kindererziehung. Alle Bemühungen
zur gesundheitlichen, sittlichen und kulturellen
Hebung des Volks, besonders auch der Kampf
gegen die Tuberkulose und andere Volksseuchen
sind vergeblich, wenn das Volk keine gesundheit-
lich und sittlich einwandfreien Wohnstätten hat
oder diese einen zu großen Teil vom Einkommen
verschlingen. Schon in den Großstädten des
Altertums wurde mit Untergang des selbstän-
digen Mittelstandes durch Sklaven= und Geld-
wirtschaft das Wohnwesen Gegenstand kapitalisti-
scher Spekulation. Die Zahl der vielstöckigen
Mietkasernen (insulae) belief sich in Rom in der
späteren Kaiserzeit auf etwa 46 000, gegenüber
1780 Patrizierhäusern. Manche Wohnungen
lagen 200 Stufen hoch, etwa 10 Stockwerke;
unter Augustus wird von Häusern mit 70 Fuß
Höhe, also 6—7 Geschossen berichtet, und in
Konstantinopel waren in der späteren Kaiserzeit
Häuser von 100 Fuß Höhe erlaubt. Engräumig-
keit und hohe Mietpreise mußten in den Volks-
massen so das Familienleben und das sittliche
Gefühl vernichten. Die Forderung nach Auf-
hebung oder Ermäßigung der Miete durchzieht,
wie die nach Aufhebung des Zinses, die letzten
Jahrhunderte Roms. Bei der Städtebildung im
deutschen Mittelalter gaben die Grundherr-
schaften den Boden planmäßig aufgeteilt in Leihe
zur Bebauung, der Beliehene erhielt das selb-
ständige Eigentumsrecht an der Benutzung des
Bodens und an dem Bauwerk, der „Besserung“,
beides ohne Zeitbegrenzung, frei veräußerlich und
vererblich gegen Entrichtung eines festen Erb-
zinses, den der Besitzer nicht erhöhen und, solang
die Rente bezahlt wurde, auch nicht kündigen
konnte, während im römischen Recht jede Verbes-
serung des Bodens dem Bodeneigentümer zufällt
(superficies solo cedit). Durch die rechtliche
Scheidung des Eigentums an Boden und Bau-
werk blieben dem Beliehenen die Früchte, die er
durch Geld= und Arbeitszufuhr, durch landwirt-
schaftliche Kultur und Bauten auf dem fremden
Boden erzielte, zu Eigentum. Die Folge war,
daß, unterstützt durch das Zinsverbot der Kirche,
ein breiter Strom von Kapital und Arbeit sich dem
städtischen Boden zuwandte, daß die mit diesem
Boden Beliehenen allmählich zu einem wirtschaft-
lich und daher bald auch politisch selbständigen
Stand emporwuchsen, der sich dann allmählich
durch Ablösung der Bodenrente, oft mit Hilfe be-
sonderer Ablösungsbanken auch das Eigentum des
Bodens erwarb und dann politisch aus der Grund-