Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1149 
Schloß= und Königstraße) von Wohlhabenden 
bewohnt mit 8.57, der andere (Ostheim) von 
Arbeitern bewohnt, die Schöpfung eines gemein- 
nützigen Vereins, mit 8,9 /0, die unmittelbar an- 
grenzenden Arbeiterbezirke haben Sterbeziffern von 
11 % und mehr; die geringe Sterbeziffer Ost- 
heims ruht auf der weiträumigen Bauweise und 
den besseren gesundheitlichen Verhältnissen seiner 
Wohnungen, dazu Wohlfahrtseinrichtungen, Kran- 
ken- und Wochenbettpflegerinnen, Krippe, Kinder- 
pflege, Kinderspielplatz usw. 
Das Einfamilienhaus, in Verbindung 
mit Hof oder Garten, ist die natürliche Wohnform; 
es ist allgemeine Volkssitte in England, Nord- 
amerika, Nord- und Mittelfrankreich und Bel- 
gien, geht von dort über den Rhein bis zu einer 
Linie, die etwa von Bremen bis Koblenz zieht, ist 
aber hier allmählich zum Kleinhaus ausgewachsen, 
ist noch Wohnsitte in Lübeck und Bremen, wird 
im westlichen Deutschland durch das Großhaus 
verdrängt, das von Berlin ausgehend das Muster 
für die Unterbringung der städtischen Bevölkerung 
geworden. Die Wohnverhältnisse verschlechtern 
sich in Deutschland von West nach Ost, und zwar 
nach jeder Richtung hin, entsprechend dem Gang 
der gesamten Kultur. Das Kennzeichen für die 
Größe der Häuser und Baublöcke, für die Auf- 
teilung des Bodens, die Führung der Straßen, 
Höhe der Boden= und Mietpreise, Zahlenverhält- 
nis der Mieter zu den Hauseigentümern und über- 
haupt für die ganze Art der Besiedlung ist die 
Behausungsziffer, die Zahl der auf einem 
Grundstück oder in einem Gebäude untergebrachten 
Menschen. Sie war in Berlin 1885 67, 1905 
77; in Köln 15 bzw. 17; in München 29 bzw. 
30 auf ein Grundstück; auf ein Gebäude in 
München 1880 19, 1905 23, Freiburg i. Br. 
14, und hat im allgemeinen noch eine steigende 
Tendenz: Siegeszug der Mietkaserne. Läßt man 
den Begriff der Mietkaserne mit 20 Fami- 
lien in einem Haus beginnen, so trifft dies in 
Berlin 42, in München 8% aller Grundstücke. 
Auf ein Gebäude kommen in Lübeck 9, in Bremen 
8, in den großen Handels= und Industriestädten 
Englands und Belgiens durchweg 5/9 Menschen. 
Diese Länder mit ihrer starken Industrie und 
starken Bevölkerung zeigen, daß die modernen in- 
dustriellen Großstädte wohl möglich sind ohne das 
Großhaus. Je kleiner die Behausungsziffer, um 
so größer die Zahl der Hausbesitzer; im Jahr 
1900 kamen auf je 100 Haushaltungen in 
Berlin 2½ (1890: 4); in München 8, Dres- 
den 6, Köln 14, Straßburg 14½, Lübeck 33 
Hausbesitzer. Die Behausungsziffer wächst in den 
großen Städten von innen nach außen: City- 
bildung, d. h. Umwandlung der Innenstadt 
zu Geschäfts= und Verkehrsstraßen mit stark wach- 
senden Bodenpreisen, starker Tages= und schwacher 
Nachtbevölkerung nach dem Vorbild der Londoner 
City. Dadurch hat z. B. der Marienplatz in 
München 50, Devenfleth in Hamburg 84% seiner 
Wohnungsfrage. 
  
1150 
Bevölkerung gegen 1871 verloren. Die eigentliche 
Mietkaserne besteht aus mehreren Gebäuden, die 
aus Vorder= und Hinterhaus, oft durch Seiten- 
flügel verbunden, um einen engen, schachtartigen 
Hof sich legen, wobei Geschoß auf Geschoß ge- 
türmt ist, vielfach mit Keller= und Dachwohnungen 
vereinigt, ohne nennenswerte Hof= oder Garten- 
nutzung. Der große Schaden der Mietkaserne 
liegt in dem engen Zusammenwohnen zahlreicher 
Familien in kleinen Wohnungen, die oft ihrer 
Knappheit wegen keine Trennung der Geschlechter 
erlauben, Aufenthalt, Arbeit und Schlaf zu einer 
Qual machen; die Wohnungen sind ohne ge- 
nügende Besonnung, die Luft in den gemeinsamen 
engen Höfen entbehrt jeder Auffrischung, im 
Sommer erwärmen sich die hohen Mauern der 
Höfe, so daß die engen Wohnungen sich auch 
nachts nicht abkühlen, die Luft in Zimmer und 
Haus ist immer schlecht, der ständige Zwang zur 
Berührung mit andern ebenso behausten Familien 
vernichtet jedes häusliche, heimatliche und Fami- 
liengefühl, und das in einer Zeit, da der Arbeiter- 
stand kulturell emporsteigen möchte. Zum System 
der Mietkaserne gehören überbreite Wohnstraßen, 
große und tiefe Baublöcke, daher auch die Hinter- 
gebäude. In Berlin wohnen 43, in Magdeburg 
36, in Posen 31, in München und Karlsruhe 19, 
in Stuttgart 7, in Augsburg 9% der Bevölke- 
rung in Hintergebäuden. Verwaltungsrechtliche 
Grundlage der Mietkaserne ist die Aufteilung 
des Baugeländes in große Baublöcke mit gleich- 
mäßigen, überbreiten Straßen, die das Bau- 
land verteuern. Man sucht den Ausgleich durch 
hohe Häuser: Hochbau im Gegensatz zum Flachbau. 
Die Behauptung, daß die bessere Ausnutzung des 
Bodens durch Kasernierung der Bevölkerung billige 
Miete bringt, wäre nur richtig, wenn der Boden- 
preis eine feststehende Größe wäre; die Höhe der 
Mieten hängt aber nicht ab von den Baukosten, 
sondern von der Marktlage. Selbst aber, wenn 
das Großhaus billigere Mieten gewährte, würden 
diese weit aufgewogen durch die allgemeine Ver- 
schlechterung des Wohnens, die sich z. B. in der 
erschreckkenden Herabdrückung der Wehrfähigkeit 
und vielfachen Verrohung der Bevölkerung zeigt. 
Die Erfahrung lehrt überall, daß unter dem Sy- 
stem der Mietkaserne der Bodenpreis im Ver- 
hältnis zur Bodenausnutzung steigt, mit der Ten- 
denz, immer höher zu steigen. Das geschieht durch 
eine weitverbreitete Spekulation, die vielfach, 
weil es hier keine Kontermine gibt, den Gelände- 
markt, besonders im Flachland beherrscht. Die 
höchstgetriebenen Bodenpreise haben die Städte in 
großen Ebenen (Berlin, München, Leipzig usw.). 
Die Spekulation lebt von Wertunterschieden, die 
durch Besitzwechsel und hypothekarische Höher- 
belastung des Bodens oder Hauses herausgezogen 
werden mit dauernder Festlegung der Wert- 
erhöhung, begünstigt durch unsern trefflich orga- 
nisierten Bodenkredit mit Grundbuch und Hypo- 
thekenbanken, wobei auch das Baugewerbe
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.