Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1151 Wohnungsfrage. 1152 
schwer leidet. Die Hausbesitzer in den Groß= Mittel der Wohnungsreform sind: die Um- 
städten sind vielfach nur Scheinbesitzer und Oypo= gestaltung der städtischen und industriellen Be- 
thekenwächter, mit der Aufgabe, den am Boden- siedlung im Sinn weiträumiger Bebauung, also 
geschäft beteiligten Kapitalinteressen die hypothe- Umgestaltung der Bodenaufteilung und Bau- 
karisch gesicherte Bodenrente einzutreiben. Daher ordnungen, der bau-= und wohnungspolizeilichen 
wird alles, was dem Mieter an wirtschaftlichem Ansprüche, was alles bis jetzt fast überall auf das 
Wohlstand zuwächst, jede Erhöhung des Ein= Großhaus zugeschnitten war, im Sinn des Ein- 
kommens der Arbeiter= und Beamtenschaft sofort familien= und Kleinhauses mit Flach= statt des 
wieder durch gesteigerte Mieten dem Bodenwert jetzigen Hochbaues, damit Wegfallen des teuren 
zugeführt und diese Wertsteigerung nach kurzer Kultus der Straße durch grundsätzliche Scheidung 
Zeit durch Verkauf und erhöhte hypothekarische zwischen breiten Verkehrs= und schmalen Wohn- 
Belastung verwirklicht und festgelegt. Daher die straßen, die in Ausstattung und Herstellung auf 
Häufigkeit des Besitzwechsels der Häuser in unsern das Notwendigste beschränkt sind, mit Durchsetzung 
Großstädten. In Berlin ist ¼ aller Häuser seit des ganzen Stadtgebiets mit keilförmig eindrin- 
zwei Jahren, ½ seit noch nicht sechs Jahren, /7 genden Freiflächen, dazu Fortbildung des Boden- 
seit weniger als 16 Jahren und kaum ¼ seit rechts durch Scheidung des Kredits zwischen 
20 Jahren in derselben Hand, in Karlsruhe ist Boden= und Bauwert, Ausbildung der Meliora- 
die durchschnittliche Besitzdauer fünf Jahre. 1871 tions= oder Besserungshypothek, wie sie in Eng- 
wurden in Berlin noch 64% , 1900 nur 54% land auf Grund des Einfamilienhauses besteht. 
von den Besitzern selbst bewohnt, die Zahl der Dieses, das dem größten Teil der Bevölkerung 
Mieter war vor 100 Jahren 33%/, heute 95% der die Erwerbung eines eignen Hauses mit Hof und 
Bevölkerung. Bei einem jährlichen Volkszuwachs Garten erlaubt, entzieht der Spekulation den 
von 800 000 muß das deutsche Volk für die Nährboden und gibt auch einen großen Teil der 
minderbemittelten Klassen jährlich 800 Mill., im im Boden und Bau angelegten Gelder regelmäßig 
ganzen rund 1 Milliarde zum Bau von Woh= wieder in das nationale Wirtschaftsleben zurück. 
nungen ausgeben. Dazu kommen die Summen, Auch das Baugewerbe gesundet dabei wieder. Die 
um welche die spekulative Preistreiberei die Boden= wichtigsten Punkte bleiben immer: Richtige Auf- 
werte und damit die Mieten, Löhne und Gehälter teilung des Bodens behufs genügender Zufuhr von 
regelmäßig steigert, weil die Spekulation die stei= billigem Bauland und finanzielle Organisation des 
gende Bodenschuld grundsätzlich nicht tilgt. So Kleinwohnungsbaues. Der Jahresbedarf hierfür 
wird ein wachsender Teil des nationalen Kapitals von 800 Mill. begegnet immer größeren Schwierig- 
der Volkswirtschaft entzogen und im städtischen keiten, nicht weil das Geld nicht vorhanden wäre, 
Boden festgelegt; hier liegt eine Hauptursache für sondern weil das Kapital sich vorwiegend dem 
unsern hohen Diskont, der wieder eine Erschwerung Boden zuwendet und dessen Preis in die Höhe zu 
unserer handelspolitischen Stellung auf dem Welt= treiben sucht, daher dann beim Bau der Häuser 
markt bedeutet. größtenteils versagt. Hierin liegt eine Haupt- 
Das Ziel der Wohnungsreform ist, den ursache, warum der Bau von Kleinwohnungen 
Minderbemittelten in Stadt und Land, auch den von 1/3 Räumen hinter dem Bedürfnis zurück- 
unselbständig Erwerbenden in Landwirtschaft, Ge= bleibt. Daher entwickelt sich die Organisation der 
werbe und Industrie, entsprechend der Schutzpflicht Selbsthilfe nur langsam, die Zahl der Bau- 
der öffentlichen Gewalt, ein Wohnwesen zu geben, genossenschaften im Deutschen Reich war Ende 
das den berechtigten sittlichen und gesundheitlichen 1909 erst 848, dazu noch etwa 120 nichtgenossen- 
Ansprüchen genügt, den Verhältnissen jener Klassen schaftliche Vereinigungen behufs gemeinnützigen 
sich anpaßt, aber auch ihrer wirtschaftlichen Wohnungsbaues. Die Gesamtzahl der Genossen- 
Leistungsfähigkeit entspricht, womöglich ein eignes schaftshäuser war etwa 50 000. Die Baugenos- 
Häuschen mit Gartenland, wenn dies nicht mög= senschaften im Deutschen Reich zerfallen in zwei 
lich, kleinere Häuser bis zu höchstens vier Fami= große Gruppen, solche, die auf dem Boden des 
lien, alles mit genügendem Raum für Aufenthalt gemeinsamen Eigentums stehen, und solche, welche 
und Bewegung, zum Wohnen, Schlafen und Ar= die Häuser in Einzelbesitz der Genossen über- 
beiten, mit Zufuhr von Licht, Lust und Sonne, führen. Der Verband der ersteren Genossen- 
mit Trennung der Geschlechter in den Schlaf= schaften umfaßte 1910 216 Vereine mit über 
räumen etwa vom 14. Jahr ab. Kann nicht jede 72000 Mitgliedern und einem Gesamtherstellungs- 
Familie einen Abort für sich haben, so darf dieser wert der Häuser von 170 Mill. J'. Die Bedeutung 
höchstens für 10/15 Personen bestimmt sein. dieses Wohnungsbaues und überhaupt der Bau- 
Mehrere Familien zusammen sollen einen Bade- tätigkeit mit Gewinnverzicht durch Arbeitgeber, 
raum haben. Die Miete darf höchstens ½ bis ½. Gemeinden und Staatsverwaltungen liegt nicht 
am besten ½ (20, 16 5. 111%) vom Einkommen 1 im Einfluß auf den Wohnungsmarkt, sondern in 
der Familie betragen. Was über ¼ hinausgeht, der Pionierarbeit: Vorbilder zu schaffen durch 
bedeutet Unterernährung, ÜUberarbeitung, Mangel Herstellung gesundheitlich und sittlich einwand- 
an genügender Kleidung und sonstige gesund= freier Wohnungen zu billigen Preisen, mit rich- 
heitliche, sittliche und kulturelle Schäden. Die tigem Verhällnis zwischen Leistung und Gegen- 
  
 
	        
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