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leistung. Alle Fortschritte und Verbesserungen im
Kleinwohnungswesen sind einzig dieser Bautätig-
keit zu verdanken, besonders hat die Baugenossen-
schaft das moderne Arbeiterhaus geschaffen, er-
zieherisch auf seine Benutzung eingewirkt und die
Arbeiter aus der Hilfs= und Hoffnungslosigkeit,
in welche die spekulative Wohnungsversorgung sie
getrieben, herausgeführt, ihnen wieder das Gefühl
der Verantwortlichkeit und der Freude an der
Mitwirkung zur Besserung des eignen Loses ge-
geben. Weil neuerdings die Versicherungsanstal-
ten als Geldgeber allmählich versagen (sie hatten
bis Ende 1910 297 Mill. M gegeben), müssen
andere Geldquellen geschaffen, aber auch dem ge-
werblichen Kleinwohnungsbau, dem stets die Haupt-
aufgabe zufällt, zur Verfügung gestellt werden.
Die Hauptausgabe der Wohnungspolitik liegt
bei den Gemeinden, unterstützt durch Staat
und Reich, durch Selbsthilfe der Wohnungs-
bedürftigen und freie Privattätigkeit. Die Ge-
meinden müssen die gesundheitlichen und sittlichen
Ansprüche an das Wohnwesen durch Mindest-
vorschriften ausgestalten, durch eine ständige
Wohnungsaussicht, die nicht Polizei-, son-
dern Wohlfahrtsorgan ist, überwachen. Landwirt-
schaftliche Gemeinden sind dabei zu schonen. Die
Mindestforderungen für den Luftraum sind z. B.
in Straßburg: Räume, die nur zum Schlafen
dienen, müssen für jede erwachsene Person minde-
stens 10 Kubikmeter, für jedes Kind unter zehn
Jahren mindestens 5 Kubikmeter Luftraum ent-
halten; dienen die Räume gleichzeitig auch zu
Wohnzwecken, so erhöht sich der Mindestluft-
raum auf 15 und 10 Kubikmeter; in Räumen,
die gleichzeitig Wohn-, Schlaf= und gewerblichen
Zwecken dienen, wird für jede gewerblich tätige
Person der Mindestluftraum wieder um 5 Ku-
bikmeter erhöht; in engen und höher bebauten
Straßen im Erdgeschoß kommen wieder 5 Ku-
bikmeter für jede Person dazu. Dazu Erleich-
terung der Steuern und Gebühren für Klein-
häuser, Besteuerung der Häuser nach dem gemeinen
Wert, Besteuerung des unverdienten, d. h. durch
die politische und kulturelle Arbeit der Gesamtheit
erwachsenen Wertzuwachses am Boden, Schaffung
einer Geldquelle besonders für die zweite Hypothek
(Beispiele: Frankfurt, Köln, Düsseldorf u. a.) sowie
eine weitschauende gemeindliche Bodenpolitik als
Kern der Wohnungsfrage; die Gemeinde muß
streben, die städtische Besiedlung und besonders die
Stadterweiterung maßgebend zu beeinflussen, ihr
Grundbesitz muß planmäßig vermehrt und nach
sozialen Rücksichten verwaltet werden. Ulm be-
berrscht so 80, Straßburg 60, Freiburg 70, Leipzig
50% seines Weichbilds; Ulm baut Kleinhäuser,
gibt sie in Privatbesitz mit Heimfallrecht an die
Stadt zum Schutz gegen Verschlechterung des
Wohnwesens. Ein Landeswohnungsinspektor soll
in reger Reisetätigkeit mit den Behörden, den
Bürgermeistern, Bauunternehmern, Arbeiter-
vereinen, Baugenossenschaften, den Wohnungs-
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aust.
Wohnungsfrage.
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kommissionen der einzelnen Städte, den örtlichen
Wohnungsaussichtsbeamten, den Arzten in stän-
diger Fühlung bleiben, die Erfahrungen der ein-
zelnen Orte den andern übermitteln, überall mit
Rat und Tat eingreifen, besonders bei den Ge-
meindebehörden das Interesse am gemeinnützigen
Wohnungsbau und einer richtigen gemeindlichen
Bodenpolitik erwecken. Frauen in der Wohnungs-
aufsicht gewinnen leichter als der Mann das Ver-
trauen der Arbeiterfrau, von deren wirtschaftlicher
Tüchtigkeit, Ordnungsliebe und Reinlichkeit vieles
abhängt.
Das Erbbaurecht als eine Form des ge-
teilten Eigentums, durch die 88 1012/1017 des
B.G. B. wieder ins Leben gerufen, hat rasch eine
große Bedeutung für die Wohnungsreform er-
langt. Es ist das Recht, auf fremdem Grundstück
ein Bauwerk zu errichten oder zu besitzen, ist
veräußerlich, vererblich und ein dingliches, d. h.
von der jeweiligen Person unabhängiges Recht,
wird als Belastung des Grundstücks auf dessen
Grundbuchblatt eingetragen, bekommt aber, weil
es ein selbständiges grundstücksgleiches Rechtt ist,
ein eignes Grundbuchblatt, damit es unabhängig
vom Grundstück veräußert und mit einer Grund-
schuld (Hypothek) belastet werden kann, die zum
Bau des Hauses dient. Der Bauende spart so die
Kosten des Bodenerwerbs, kann daher eine größere
Fläche mit Hof und Garten pachten, zahlt wäh-
rend der Erbbaufrist, die keine Zeitgrenze haben
muß (doch wird sie meist auf 50/70 Jahre be-
grenzt), dem Grundeigentümer jährlich nur einen
Erbbauzins. Nach Ablauf der Frist fällt der Be-
sitz auseinander, der Boden wird seinem Eigen-
tümer wieder frei, das Haus muß vom Erbbau-
berechtigten beseitigt werden, der Hausbesitzer muß
daher das Baugeld längstens bis zum Ablauf der
Erbbaufrist getilgthaben, Erbbauhypotheken müssen
daher Tilgungshypotheken sein. Der richtige Ein-
gang der Zinsen und Tilgungsbeträge entbehrt
aber der hypothekarischen Sicherheit durch den
Boden und hängt größtenteils von der wirt-
schaftlichen Tüchtigkeit und Reellität des Erbbau-
pächters ab, besonders auch davon, ob dieser die
Gebäude ordnungsmäßig instand und gegen Feuer
versichert hält und ob sein Rechtsnachfolger das
weiterführt. Die schwierigste Frage ist daher die
Beleihung des Erbbaurechts und ob auch hier eine
mündelsichere Grenze zulässig sei. Das Erbbau-
recht besteht in England als Rest der mittel-
alterlichen Bodenleihe, im Unterschied zum deut-
schen Erbrecht fällt das Gebäude nach Ablauf der
Frist, meist 99 Jahre, dem Bodeneigentümer zu,
wird daher gegen Schluß der Erbbaufrist regel-
mäßig verwahrlost. Das deutsche Erbbaurecht hat
bei den Privatbesitzern keinen Beifall gefunden,
es empfiehlt sich nur für grundbesitzende Dauer-
körperschaften. Reich, Staat, Stiftungen und be-
sonders Gemeinden können auf diese Weise ihren
Grundbesitz zu energischer Betreibung der Woh-
nungsreform verwenden und an der wachsenden
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