Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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tums Gewinn gesucht wird. Daher nannten die 
Mittelalterlichen den Wucher Gesuech (Ratzinger, 
Volkswirtschaft 332): Der Wucherer geht umher 
wie ein Dieb und sucht mit der Schuldsumme einen 
mühelosen Erwerb, wo solcher nach den Gesetzen 
der Sittlichkeit wie der Okonomie nicht beansprucht 
werden kann. Er ist jedoch nicht jede Verletzung 
der Gerechtigkeit, sondern nur eine solche, die im 
Geschäftsverkehr stattfindet, und auch hier nur 
eine solche, die nicht bei den Zug-um-Zug- 
Geschäften, sondern im Hreditverkehr geschieht. 
Im gewöhnlichen Sinn ist Wucher Verletzung der 
ausgleichenden Gerechtigkeit im Darlehens- 
verkehr: dieser ist seine ursprüngliche Heimat 
(Pesch, Zinsgrund und Zinsgrenze 39), wenn er 
auch, wie noch gezeigt werden soll, keineswegs 
hierauf beschränkt werden darf. Da sich der Be- 
griff des Wuchers historisch wie in der populären 
Sprechweise mit dem Darlehen verknüpft, muß zu- 
nächst dieses einer Untersuchung unterzogen werden. 
II. Das Darkehen. Der Darlehensvertrag 
(mutuum) ist ein Realvertrag, in welchem das 
Eigentum einer dem Verbrauch dienenden, ver- 
tretbaren Sache (res primo usu consumptibilis 
#Vel fungibilis) einem andern übertragen wird, 
während dieser sich verpflichtet, nach einer ge- 
wissen Zeit eine andere Sache derselben Art, 
Qualität und Quantität zurückzugeben. Da hier 
Gebrauch und Verbrauch nicht getrennt werden 
können, muß die dargeliehene Sache in das 
Eigentum des Schuldners übergehen; ferner 
kann aus dem gleichen Grund außer der Rückgabe 
einer art- und wertgleichen Sache für den Ge- 
brauch des Darlehensgegenstandes keine besondere 
Vergütung ausbedungen werden: Das Darlehen 
ist ein unentgeltlicher Vertrag. 
Die Gleichheit von Leistung und Gegenleistung 
ist dem Darlehen wesentlich. Würde für die Uber- 
lassung eines unfruchtbaren Gegenstandes ein Ent- 
ge gefordert, so würde man dem Schuldner eine 
eistung zumuten, der keine Gegenleistung seitens 
des Gläubigers entspricht. Man würde, wie 
Thomas von Aquin (8. th. 2, 2, q. 77) bemerkt, 
etwas verkaufen, was gar nicht vorhanden ist, 
nämlich die vom Verbrauch der Sache ablösbare 
Nutzung, oder man würde dieselbe Sache zweimal 
verkaufen. Ein solcher Zins ist Wucher (foenus 
— usura) und widerspricht der strikten Gerechtig- 
keit, welche für den gesamten Tauschverkehr die 
Aquivalenz der Leistungen als oberstes Prinzip 
aufstellt. Er steht ebenso im Gegensatz zur Billig- 
Wucher und Zins. 
  
  
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Naturalwirtschaft wird jedoch das Darlehen aus- 
schließlich in Naturalform gegeben, wie hier ja 
jeder Tausch in natura sich vollzieht. Sehr bald 
aber treiben die Bedürfnisse des wirtschaftlichen 
Verkehrs zu einem Ersatzmittel, das sich in den 
unmittelbaren Austausch der Gebrauchsgüter ein- 
schiebt. Es stellt sich das Bedürfnis nach einem 
Gegenstand ein, der sich bequem gegen beliebige 
Waren umtauschen, sich leicht aufbewahren läßt 
und zugleich als allgemeines Wertmaß dient. Das 
Geld dient unmittelbar keinem menschlichen Be- 
dürfnis, weder der Produktion noch der Konsum- 
tion, sondern es erweist sich als nützlich nur da- 
durch, daß es in den Verkehr kommt und gegen 
einen Gegenstand des Konsums oder der Produk- 
tion umgetauscht wird (ÜUber die Funktionen des 
Geldes vgl. J. Hucke, Das Geldproblem und 
die soziale Frage (1903.). Das Geld geht nach 
der von Aristoteles vertretenen und von der 
Scholastik noch weiter ausgebildeten Doktrin durch 
den Gebrauch dem jeweiligen Besitzer verloren, 
sein Gebrauch ist sein Verbrauch; es trägt dem- 
nach keine Frucht, besitzt keine von seiner Substanz 
ablösbare Rutzung. Daraus folgt, daß auch für 
eine dargeliehene Geldsumme nach Ablauf der 
Leihfrist kein Zins, keine besondere Vergütung 
für die zeitweilige Uberlassung gefordert werden 
darf. Ein Gewinn, der aus einem Darlehen 
als solchem (ipsius ratione mutui) gezogen 
wird, ist Wucher. 
Auf dieser Vorstellung vom Darlehen und der 
Funktion des Geldes, die einen ganz besondern 
wirtschaftlichen Tatbestand zur Voraussetzung hat, 
beruht nun das Zinsverbot, wie es vom Alten 
Testament, von den Denkern im alten Rom und 
Griechenland und ganz besonders von der Kirche 
bis in die Neuzeit herauf festgehalten wurde. Wegen 
des hervorragenden Anteils, der der Kirche an der 
Bekämpfung des Zinses vom Darlehen zukommt, 
spricht man häufig von einem kirchlichen Zins- 
verbot. Diese Bezeichnung ist nun insofern miß- 
verständlich, als dadurch die Unerlaubtheit des 
Zinsbezugs als auf positivem Recht beruhend hin- 
gestellt wird, während sie von der Kirche als ein 
im natürlichen Sittengesetz begründetes Verbot 
betrachtet wurde (Biederlack, Der Darlehenszins 6). 
Insofern ist es wohl auch nicht berechtigt, das Ver- 
bot als ein eigentliches von der Kirche verkündetes 
Dogma zu betrachten, wie Weiß (Soziale Frage 
und soziale Ordnung 748 ffh beständig tut; denn 
dieses „Dogma“ war bereits in der vorchristlichen 
keit und Liebe, weil nur die Not dazu zwingen Zeit bekannt und wurde nicht erst durch positive 
kann, eine an sich unfruchtbare Sache zu entlehnen, Offenbarung Gottes kund gemacht. 
eine den Wert der Sache übersteigende Mehrfor III. Die Geschichte des Wucherverbots zeigt 
derung darum eine Ausbeutung fremder Not ungefähr folgendes Bild: 1. Im klassischen 
wäre; ein solcher Zins stünde aber auch im Gegen-Altertum (Griechenland und Rom) hauste der 
sah zur ökonomischen Wohlfahrt und würde die Wucher entsetzlich (vgl. die Darstellungen, die 
wirtschaftliche Lage des ohnehin in Not Befind= Ruhland, System der politischen Okonomie 1 
lichen noch mehr verschlimmern. 11902) und Rahinger S. 284 ff geben); der 
Gegenstand des Darlehens sind Konsumtibilien, Bauernstand wurde durch denselben ausgesogen, 
Mittel zur Bedürfnisbefriedigung. Nur in der und die Schuldknechtschaft (nexum, vgl. dar- 
 
	        
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