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zu begegnen. Eine solche Maßregel verhütet zu-
gleich die Benachteiligung des kleinen Kapital-
besitzers, der sein geringes Kapital nicht immer
selbst in einen fruchtbaren Gegenstand umwandeln
kann noch auch immer Gelegenheit hat, mit an-
dern Kapitalbesitzern zu einem gemeinsamen Ge-
schäft sich zu verbinden, um aus seinem Geld Nutzen
zu ziehen. Dem Besitzer großer Geldkapitalien
stehen mancherlei Wege, mit seinem Geld zu wirt-
schaften, offen, während der kleine Kapitalbesitzer
ohne solche staatliche Erlaubnis im Zweifel sein
mußte, ob er von seinem Geld Zins nehmen dürfe
(Biederlack S. 41). Die staatliche Zinsgestattung
schafft eine klare Situation und ist im Interesse
der weniger Begüterten gelegen.
6. Die Reformatorer blieben zunächst auf
dem Standpunkt des kanonischen Rechts stehen.
Luther dehnte den Begriff des Wuchers sogar
auf den Rentenkauf aus: „Es ist wahr, daß der
Zinskauff ein wucherlich Werk ist — und ein
christlich edel Werk wäre, daß die Fürsten und
Herren zusammenträten und ihn abschafften."
Doch blieb er sich ebensowenig konsequent wie
Melanchthon (Jacobson S. 346 f). Dagegen tritt
Calvin für uneingeschränkte Freiheit des Zins-
darlehens ein, indem er dem alttestamentlichen
Zinsverbot als einer politischen Einrichtung die
Verbindlichkeit für die Christen bestritt. Als der
französische Jurist Dumoulin den Satz verteidigte,
daß das Zinsnehmen nur so weit unerlaubt sei,
als es gegen die Liebe verstoße, wurde seine Lehre
als calvinische Häresie abgelehnt.
7. In ein letztes Stadium trat der Wucher-
streit, als die Stadt Verona um 1740 ein größe-
res Darlehen zu 4% aufnahm. Der gelehrte
Scipio Maffei trat in seiner Papst Bene-
dikt XIV. gewidmeten Schrift Dell'’' impiego
del denaro (Verona 1744) für die Berechtigung
eines mäßigen Zinses ein. Die Folge war, daß
Papst Benedikt XIV. im Jahr 1745 die berühmte
Enzyklika Vix pervenit an die Bischöfe Italiens
erließ, in welcher der aus dem Darlehen und kraft
des Darlehens bezogene Gewinn als Wucher be-
zeichnet wurde, mag er von einem Reichen oder
Armen bezogen oder mag das Darlehen zur Be-
seitigung einer Not oder zum Zweck der Bereiche-
rung aufgenommen werden. Die Berechtigung des
Zinses wird auf die bisherigen Titel beschränkt
und die Anschauung abgewiesen, als sei ein solches
Recht stets vorhanden (vgl. besonders Funk, Zur
Geschichte des Wucherstreits (19011 6 ff.
In Frankreich wurde von der konstituierenden
Versammlung im Jahr 1789 ein Gesetz erlassen,
welches einen gesetzlich bestimmten Zins vom Dar-
lehen zu nehmen gestattete. Als aber die Verhält-
nisse wieder geordnet waren, fand das Zinsverbot
„wiederum seine Verteidiger, da auch ein Teil des
Klerus gleich den Bourbonen nichts gelernt und
nichts vergessen hatte“ (Funk, Geschichte 69).
Noch im Jahr 1817 erließ der Erzbischof von
Bordeaux einen Hirtenbrief gegen das Zinsneh-
Wucher und Zins.
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men. Hingegen vertrat der Kardinal de la Lu-
zerne mit großer Entschiedenheit den Satz, der
Christ sei nur dann zur Gewährung eines unent-
geltlichen Darlehens verpflichtet, wenn der Emp-
fänger ein Armer sei, dagegen nicht, wenn es einem
Reichen oder zu einer gewinnbringenden Unter-
nehmung gegeben werde. Diese Lehre fand jetzt,
nachdem „das mittelalterliche Feudalwesen unter
den Streichen der Revolution zu Boden gesunken“
und eine neue Ordnung ins Leben getreten war,
in weiteren Kreisen Anklang. Allgemein ward sie
freilich nicht sogleich angenommen. Mehrere Geist-
liche betrachteten das Zinsnehmen nach den mittel-
alterlichen Kanones auch jetzt noch als einen Grund
zur Sakramentsverweigerung (ebd.).
8. Gegenwärtige Stellung der Kirche
zum Zins. Durch derartige Vorkommnisse sah
sich der Apostolische Stuhl veranlaßt, zur Zins-
frage neuerdings Stellung zu nehmen. Es erfolgte
zwar keine ausdrückliche Erlaubnis des Zinses —
eine solche ist bis heute nicht gegeben —, wohl
aber haben die römischen Kongregationen auf
öftere Anfragen in den 1830er Jahren wiederholt
erklärt, man solle diejenigen, welche einen mäßigen
Zins nehmen, im Gewissen nicht beunruhigen,
sofern sie nur bereit seien, sich den etwaigen kirch-
lichen Entscheidungen zu unterwerfen. Während
in den ersten Erklärungen das Vorhandensein des
titulus legis civilis gefordert wurde, sehen die
späteren davon ab, so daß also der Zins gestattet
ist, auch wenn keiner der alten Titel vorliegt.
Diese Erklärung der Kirche, die bei manchen
französischen Theologen auf Widerstand stieß (s.
Funk S. 70), hat keineswegs bloß den Sinn,
als wolle die Kirche ein geringeres Übel dul-
den, um größere zu verhüten, sondern sie besitzt
nach der übereinstimmenden Ansicht der Mora-
listen die Bedeutung einer Erlaubnis, die in
der Natur der Dinge begründet ist. „Wäre heut-
zutage der mäßige Zinsbezug objektiv und in sich
naturrechtswidrig, so stellte die Kirche nicht nur an
den im Zeitalter des Kapitalismus Lebenden die
mildesten Ansprüche, sondern sie duldete positiv
und für die weitesten Kreise der menschlichen Ge-
sellschaft ein Verbrechen der abscheulichsten Art,
den Wucher, ein dem Naturgesetz widersprechen-
des und somit innerlich böses Verfahren“ (Pesch,
Zinsgrund 37). Vereinzelt werden freilich auch
heute noch gegenteilige Meinungen laut. So be-
streitet Kempel (Göttliches Sittengesetz und neu-
zeitliches Erwerbsleben (19011) 73), der einer
Zurückschraubung der neuzeitlichen Wirtschaftszu-
stände auf mittelalterliche Wirtschaftsformen das
Wort redet, daß in den Entscheidungen der Kirche
eine eigentliche Erlaubnis enthalten sei. Es han-
delte sich bei ihnen augenscheinlich (!) nur um die
ganz widerwillige Duldung einer Sache, die man
nicht im Handumdrehen ändern könne, weil sie
einem wie eine unüberwindliche Gewalt, eine vis
maior, entgegenstehe. Die ganze Haltung der
Kirche berechtigt keineswegs zu der Annahme,