Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Bereithaltung der für die gesamte Staatstätigkeit 
erforderlichen Sachgüter. 
Aus dem Gesagten erhellt, daß die Beziehung 
zwischen der Verwaltung oder dem „arbeitenden 
Staat“ und dem Recht nicht derart ist, daß dieses 
der Staatsverwaltung beim Abschluß privatrecht- 
lich zu beurteilender Rechtsgeschäfte oder bei der 
Vornahme obrigkeitlicher, Gehorsam heischender 
und den Widerstrebenden zwingender Verwal- 
tungsgeschäfte nur Schranken auferlegt, sondern 
daß die dem Verwaltungsrecht angehörenden Kom- 
petenzrechtsnormen eine bestimmte verwal- 
tende Tätigkeit gebieten, daß diese Tätigkeit, soweit 
nach objektivem Recht Zweckmäßigkeitserwägungen 
Platz greifen sollen, sich voll entfalten und nicht 
durch das Recht beschränkt werden soll. Besonders 
bei den Verwaltungsakten der zweiten Art engt 
die Staatsgewalt die Rechtsmacht des einzelnen in 
hohem Grad ein. Während nach alten Rechts- 
ordnungen dem Staat, auch zur zwangsweisen 
Beglückung seiner Untertanen (der „beschränkte 
Untertanenverstand“) auf allen Gebieten seiner 
Tätigkeit weitgehendes, nicht an bestimmte Normen 
gebundenes Ermessen zustand, entspricht es dem 
modernen Staatsgedanken, daß beiderartig schweren 
Eingriffen in die Rechtssphäre des einzelnen mög- 
lichst spezialisierte Normen die Tätigkeit der staats- 
verwaltenden Organe in Bezug auf ihre Voraus- 
setzungen, ihre Fristen und Formen regeln, so daß 
in der Regel der Eingriff selbst nicht eine ent- 
sprechende Zweckmäßigkeitserwägung, sondern mög- 
lichst bestimmt fixierte äußere Tatbestandsmerk- 
male zur Voraussetzung hat, und daß die Zweck- 
mäßigkeitserwägungen sich nur auf nebensächliche 
Modalitäten des Staatsverwaltungsaktes zu er- 
strecken haben. Man kann diese Normen als 
„Rechtsschranken der freien Tätigkeit der Ver- 
waltungsorgane“ bezeichnen, muß sich dabei aber 
vergegenwärtigen, daß es dem Wesen des Rechts 
als eines Normenkomplexes entspricht, daß der von 
ihm erteilte Befehl vollkommen ausgeführt werde, 
daß sich also die verwaltende Staatstätigkeit voll 
entfalten soll, und daß, wo solche „Schranken“ 
existieren (z. B. als „Grund= oder Freiheitsrechte"), 
der vom Staat an sein Organ gerichtete Befehl 
eben nur bis zu dieser Schranke reicht. Diese hat 
daher lediglich negative, nicht positive Bedeutung. 
Im einzelnen ist es jedoch häufig wegen der 
Schwierigleit der Ermittlung des positiven Rechts- 
zustands zweifelhaft, wieweit ein Raum für Zweck- 
maßigkeitserwägungen einer verwaltenden Be- 
hörde gegeben ist (z. B. bezüglich der polizeilichen 
Kompetenz). 
4. Die Notstandshandlungen der 
Staatsgewalt. An dem objektiven Recht 
finden nicht nur die Zweckmäßigkeitserwägungen, 
sondern auch die Handlungen der rechtsausführen- 
den Organe überhaupt ihre Grenze. Dieser Ge- 
sichtspunkt muß auch für die Beurteilung des jus 
eminens maßgebend sein. Die Annahme einer 
sich nicht als Gesetzesvollziehung darstellenden, son- 
Staatsverwaltung ufw. 
  
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dern sich frei, wenn auch innerhalb der Schranken 
der Gesetze vollziehenden Staatstätigkeit hat zur 
Konstruktion eines Staatsnotrechts geführt, kraft 
dessen die Staatsgewalt die rechtlichen Schranken 
durchbrechen kann, wenn die Existenz oder Sicher- 
heit des Staats dies erfordert. Die Anwendungs- 
möglichkeit des Staatsnotrechts soll in der konstitu- 
tionellen Monarchie in dem Recht und der Pflicht 
der Staatsregierung bestehen, im Notfall einseitig 
die dem ganzen gesetzgebenden Körper zustehenden 
Rechte auszuüben. Doch wird auch ein weiter 
gehender, allgemeiner Gebrauch dieses Notrechts 
in nicht näher zu definierenden Fällen anerkannt, 
in denen eine staatsrettende Tat absolut erforder- 
lich ist. 
Mit Recht wendet sich die neuere Theorie gegen 
die Daseinsberechtigung dieses im 17. Jahrh. ent- 
standenen Begriffs. Das ius eminens ist ein 
Korrelat des Begriffs der wohlerworbenen Rechte; 
wenn diese begrifflich jeden rechtlichen Eingriff 
ausschlossen, so mußte ein solcher, falls ein dringen- 
des Staatsinteresse ihn erforderte, als gewisser- 
maßen Rechtsgrundsätzen zuwiderlaufend angesehen 
werden. „Nach dem Dogma des jus eminens 
erscheint nahezu die gesamte hoheitliche Staats- 
tätigkeit, soweit sie in Einzelwirtschaft und Privat- 
eigentum eingreift, als Notstandshandlung — als 
eine Art fortgesetztes Verbrechen, welches nur durch 
dringende Zwangslagen entschuldigt werden kann“ 
(Anschütz). Diese mit dem Begriff der Staats- 
sunktion unvereinbare Eigenschaft derjenigen Hand- 
lungen der Staatsorgane, die sie innerhalb ihrer 
Kompetenz vornehmen, ist das beste Argument gegen 
die Existenz eines solchen ius eminens, das in die 
neueste Doktrin auch kaum Eingang gefunden hat. 
Man bezeichnet hier nur noch außerordentliche 
Maßnahmen des Staats beim Vorliegen außer- 
gewöhnlicher Umstände, Maßnahmen, die aber in 
Kompetenzrechtsnormen ihre rechtliche Grundlage 
haben, als Außerungen einer „Notgewalt“ des 
Staats. 
5. Die„ positiv fördernde“ Staatsver- 
waltung. Es gibt nicht nur Gebiete menschlicher 
Willensbetätigungen, die der rechtlichen Reglung 
unzugänglich sind, sondern auch solche, auf denen eine 
Rechtssetzung unzweckmäßig ist, weil der durch sie 
hervorgerufene Erfolg in keinem Verhältnis zu der 
durch sie bewirkten Bevormundung der Willens- 
freiheit der Staatsgenossen steht. Ein Staat, der 
in dieser Beziehung zu weit geht, wird zu einem 
Polizeistaat, in dem das Bewußtsein der Selbst- 
verantwortung und das Vertrauen auf die eigne 
Kraft bei den Untertanen sinkt und chikanösem 
Handeln der Staatsorgane Tür und Tor geöffnet 
wird. In diesem Sinn enthält der Satz Pluri- 
mac leges pessima respublica eine deherzigens- 
werte Wahrheit. Die in einer Rechtsgemeinschaft 
geltenden Rechtsnormen werden als Produkt der 
Tätigkeit des unvollkommenen Menschengeists nie 
lediglich die der idealsten Kultur entsprechenden Ge- 
bote und Verbote enthalten; sowohl zwischen den
	        
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