Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Charakter eines Preises besitzt, so kann dieser auch 
da verlangt werden, wo im einzelnen Fall die ihm 
zugrunde liegende Möglichkeit produktiver Ver- 
wendung des Geldes für den Schuldner nicht 
realisiert wird; die Unterscheidung von Konsumtio- 
und Produktivdarlehen ist somit bedeutungslos; 
„vielmehr ist auch für das Konsumtivdarlehen 
jener reine Zins gerecht, welcher an einem ge- 
gebenen Ort zu bestimmter Zeit als mittlerer 
Marktpreis der Kreditleistung von gewissenhaften 
und ehrlichen Leuten genommen und bezahlt zu 
werden pflegt“ (Pesch a. a. O. 410 f). Die An- 
schauung Funks (Wucher und Zins 103), daß 
das Zinsverbot auch in der Gegenwart im Fall 
des Konsumtivdarlehens zur Anwendung komme, 
ist darum nicht berechtigt. Wie Ratzinger (S. 262) 
betont, ist mit dem Eigentum als dem Recht, einen 
Wert ausschließlich zu besitzen, schon von selbst 
die Berechtigung des Zinses gegeben, insofern es 
sich eben um einen Gegenstand handelt, der eine 
selbständige Benutzung gestattet. Einen solchen 
Wert besitzt unter den gegenwärtigen Wirtschafts- 
verhältnissen im allgemeinen das Geld; eine be- 
sondere Vergütung für den im Darlehen voll- 
zogenen Verzicht auf denselben ist somit gerecht- 
fertigt. Caro (Der Wucher 127 ) meint, nur 
aus Zweckmäßigkeitsrücksichten (damit nämlich ein 
genügendes wirtschaftliches Motiv zur Abgabe 
eines Darlehens vorhanden sei) könne für ein 
Darlehen, das zu Konsumtionszwecken bestimmt, 
oder dessen Produktivität durch äußere Umstände 
verhindert war, ein Zins gefordert werden, so- 
lange es an großartigen Kreditorganisationen 
fehle. Ein solcher Zins sei wohl ungerecht, 
aber zweckmäßig, und der stete Niedergang des 
Zinsfußes vermindere fortwährend die Ungerech- 
tigkeit. Nach Caro (S. 99 ff) ist nämlich der Zins 
nichts anderes als „der Preis des Nutzens, den 
das überlassene Kapital dem Entleiher gebracht 
hat“. Der Zins müsse darum ganz oder teil- 
weise nachgelassen werden, wo das Erträgnis des 
geliehenen Kapitals ganz oder zum Teil wegfalle, 
ähnlich wie beim Pachtvertrag, wo die Pacht er- 
lassen oder ermäßigt werde, wenn ohne Schuld des 
Pächters eingetreiene Ereignisse den Ertrag des 
Guts ganz oder teilweise vereitelten (S. 122 f). 
Diese Meinung ist jedoch bei der Auffassung des 
Zinses als des Preises für die Möglichkeit 
einer Wertgewinnung nicht haltbar. Der Zins 
bestimmt sich nicht nach dem besseren oder schlech- 
teren Gang des Geschäfts, sondern ganz unab- 
hängig von diesem nach dem Preis, den das 
Gelddarlehen für die einzelnen Kategorien des 
Erwerbslebens besitzt. 
Trotz dieser allgemeinen Zinsgestattung ist 
keineswegs ein anderes Geschäft an die Stelle 
des Darlehens getreten, wie manche anzunehmen 
scheinen. Die Absicht der Kontrahenten ist auf 
Eingehung eines eigentlichen Darlehensvertrags 
gerichtet, keineswegs etwa auf den Abschluß eines 
Gesellschaftsvertrags; die Gläubiger würden sich 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Anfl. 
Wucher und Zins. 
  
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weigern, unmittelbar an der Gefahr des Verlustes 
teilzunehmen. Auch die kirchlichen Entscheidungen, 
welche heute einen mäßigen Zins gestatten, haben 
die Tatsache des Darlehens zur Voraussetzung. 
Nicht ganz klar ist die Begründung, wie sie 
Natzinger der Zinsberechtigung angedeihen läßt. 
Er hält es für wesentlich, daß der Kredit ohne 
Pfand sei, so daß der Kreditgewährer das Risiko 
zu tragen hat; der Kredit sei eine Eigentümlichkeit 
des Handels, auch des Gewerbes und der Indu- 
strie, das Pfanddarlehen hingegen sei hauptsächlich 
bei Grundbesitz zu fordern. „Wir zeichnen damit 
nur die allgemeinen Umrisse. Auch bei Industrie 
und Handel können Pfanddarlehen vorkommen, 
und dann ist die Zinslosigkeit Gebot (Natzinger 
S. 267). Danach wäre die sittliche Berechtigung 
des Zinses einzig im Risiko gelegen, das mit der 
Unsicherheit der Zukunft verbunden ist (S. 268). 
Anderwärts leitet Ratzinger die Berechtigung des 
Zinses aus der Zeitdifferenz her (S. 346), wäh- 
rend er im Grund die Entgeltlichkeit des heutigen 
Kredits daraus erklären will, daß der präsente 
Wert ein Pluswert ist gegenüber dem künftigen 
Wert, mit welchem er in Tauschverkehr tritt. „In 
der Differenz zwischen diesem Plus und Minus 
liegt die wirtschaftliche Berechtigung des 
Zinses, nicht aber in der beliebten Unterscheidung 
zwischen Produktiv= und Konsumtivdarlehen“ 
(S. 345 f). 
VI. Wesen des Wuchers. Wucher ist somit 
da gegeben, wo eine Entschädigung oder eine 
Frucht in Kraft des Darlehens begehrt wird, ob- 
wohl weder eine Schädigung noch ein Gewinn- 
entgang bzw. eine Uberlassung einer objektiven 
Möglichkeit der Gewinnerzielung gegeben ist. Ver- 
letzung der Gerechtigkeit im Darlehensverkehr ist 
das formelle, das Wesen des Wuchers konsti- 
tuierende Moment. Solange das Darlehen vor- 
wiegend die Vertragsform für die unentgeltliche 
Geldüberlassung zu konsumtiven Zwecken war, 
bestand der Wucher in jeder den Wert der Dar- 
lehenssumme überschreitenden Vergütung, die nicht 
durch besondere Rechtstitel gerechtfertigt war. So- 
bald jedoch, wie heute, das Darlehen eine der 
Formen des Kreditverkehrs zur Befruchtung wirt- 
schaftlicher Tätigkeit geworden, muß auch der 
Wucherbegriff über den Bereich des Darlehens 
auf den gesamten Kreditverkehr ausgedehnt werden. 
Darum sind Begriffsbestimmungen wie die fol- 
genden anfechtbar: Wucher ist „die Ausbeutung 
der Not des Nächsten zu eignem Gewinn" (Funk, 
Wucher 197, 209); hier ist unentschieden, ob 
sich dieselbe im Darlehensverkehr oder auch in an- 
dern Vertragsformen vollzieht. Wucher ist „die 
Aneignung fremden Eigentums im Tausch= und 
Darlehensverkehr“ (Ratzinger S. 259; Pesch, 
Zinsgrund 38; eine kritische Übersicht der ge- 
läufigsten Wucherdefinitionen findet sich bei Caro, 
Der Wucher). Nicht jede Aneignung fremden 
Eigentums im Tauschverkehr ist Wucher. Ebenso- 
wenig ist Aneignung fremden Eigentums durch 
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