Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ernd abnorm niedrig und das Agio dauernd 
abnorm hoch — auch abgesehen von jenem Zins- 
zuschlag, der natürlich schon aus dem Titel einer 
Risikoprämie hier erfolgen muß“ (Böhm-Bawerk, 
Kapital und Kapitalzinstheorie II 455). Wo der 
Faktor der Nächstenliebe aus dem Gesellschafts- 
leben ausgeschaltet ist, wird das zinslose Darlehen 
an Dürftige überhaupt eine seltene Erscheinung 
sein. Aber es muß wenigstens durch die Gesetz- 
gebung verhütet werden, daß die Dürftigkeit vom 
Wurcher vollends ausgeplündert werde. 
Alle diese Maßregeln erweisen sich jedoch als 
ziemlich fruchtlos, solang nicht durch Ge- 
nossenschaften der Kredit organisiert 
und das Kreditbedürfnis befriedigt wird. Aber 
dafür ist die natürliche Voraussetzung, 
daß der Geist der Solidarität und der 
christlichen Nächstenliebe die Gesell- 
schaft und die Berufsstände durch- 
dringe. Der landwirtschaftliche Hypothekar- 
kredit muß Sache der Berufsgenossenschaft werden, 
wie die Frage des ländlichen Personalkredits schon 
jetzt durch landwirtschaftliche Kreditgenossenschaften 
gelöst ist. Köhler (Landwirtschaft und Sozial- 
demokratie 1|1190313 60) spricht von 12 779 land- 
wirtschaftlichen Kreditgenossenschaften, unter denen 
die ländlichen Darlehenskassen einen hervorragen- 
den Rang einnehmen. Sie befreien den Klein- 
grundbesitzer von seinem gefährlichsten Feind, dem 
Wucherer. „Unter ihrem Schutz geht es wie ein 
Aufatmen und neues Erblühen durch die weiten 
Gebiete des deutschen Bauerntums.“ Daß es trotz- 
dem noch ein großes Feld der Arbeit gibt, dafür 
bürgen die Klagen über die mancherlei Formen, 
in denen der Wucher auf dem Land umgeht: 
Darlehens-, Grundstücks-, Vieh-, Warenwucher 
(Kreditierung von Saatgut gegen Aushaltung 
eines Anteils an der Ernte, Umtausch der land- 
wirtschaftlichen Produkte gegen minderwertige 
andere Waren usw.; vgl. Sombart, Die deutsche 
Volkswirtschaft im 19. Jahrh. I1903 392 ff, wo 
auch neueste Berichte über den Wucher auf dem 
Land sich finden). Weil sich die Wucherer in ihrem 
dunkeln Treiben durch Darlehenskassen bedroht 
sehen, treiben sie vielfach oft mit Erfolg starke 
Agitation gegen Konsum= und ähnliche Vereine 
(Caro S. 3). Auch ist die Ausbreitung der Dar- 
lehenskassen noch nicht eine derartige, um überall 
dem Wucher das Wasser abgraben zu können. 
Deshalb hat sich im Großherzogtum Baden ein 
besonderer Schutzverein gegen die wucherische Aus- 
beutung des Volks gebildet, in dem sich die maß- 
gebenden Kreise des Landes zusammenschlossen 
(Sohnrey, Wohlfahrtspflege auf dem Land; in 
den Schriften der Zentralstelle für Arbeiterwohl- 
fahrtseinrichtungen Nr 9, 209 ff). Auch für das 
Handwerk muß der Produktiokredit durch Ge- 
nossenschaften beschafft werden, wenn auch der Er- 
folg auf diesem Gebiet bisher kein so günstiger 
war wie bei der Landwirtschaft (Sombart, Der 
moderne Kapitalismus II 556 ff). Nebenbei be- 
Wucher und Zins. 
  
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merkt, bieten die Zwangsveräußerungen kein ge- 
naues Bild der volkswirtschaftlich schädlichen Wirk- 
samkeit des Wuchers, da viele Wucherer es vor- 
ziehen, nicht zur Zwangsveräußerung zu schreiten, 
sondern ihre Schuldner auf der Scholle für sich 
arbeiten lassen (Caro S. 189 A. 9). 
VIII. Rückölick. Nach den bisherigen Dar- 
legungen ist die Stellung der Kirche zum Zins 
klar. Das Zinsverbot, an dem sie bis fast in die 
Gegenwart herein festgehalten hat, war die Waffe, 
mit der die Kirche, sei es allein sei es im Bund 
mit der christlichen Staatsgewalt, gegen die Ver- 
heerungen des Wuchers ankämpfte. Das ist ein 
bleibendes Verdienst, das sie sich um die zeitliche 
Wohlfahrt der Völker erwarb. Sie hat sich bei 
aller Hochschätzung des Ackerbaues niemals mit der 
Naturalwirtschaft identifiziert, so wenig als mit 
einem andern Wirtschaftssystem. Ihr ist es darum 
zu tun, daß in jeder Form des Wirtschaftslebens 
die Grundsätze des Rechts und der Moral zur 
Geltung kommen. Sie hat die Entwicklung der 
materiellen Produktivkräfte keineswegs aufgehalten, 
denn das Kapital, dessen Fruchtbarkeit heute den 
Zins rechtfertigt, war auf früheren Wirtschafts- 
stufen von verschwindender Bedeutung. Wenn 
Sommerlad (Zinsfuß im Mittelalter, im Hand- 
wörterbuch der Staatswissenschaften VII2 960) 
sagt, es sei eine irrtümliche Ansicht, daß im 
Mittelalter Anlage und Benutzung von Kapitalien 
unmöglich gewesen sei, so war, soweit eine Kapital- 
anlage wünschenswert war, dafür im Rentenkauf, 
im Gesellschaftsvertrag Gelegenheit geboten, ohne 
daß darum die Anschauung von der Unentgeltlich- 
keit des Darlehens preisgegeben zu werden brauchte. 
Gibt ja Sommerlad (S. 961) selbst zu, daß bei 
der Beurteilung des Zinsverbots besonders be- 
rücksichtigt werden muß, daß es der rechtliche 
Ausdruck wirtschaftlicher Zustände 
war. Es konnte nur in einer Zeit aufgestellt und 
verfochten werden, „zu der das Geldkapital über- 
haupt nicht oder nur in geringem Umfang vor- 
handen war, das Vermögen vornehmlich in Grund- 
besitz bestand, die Kapitaleigenschaft dem Geld 
mangelte und deshalb die zinsbare Verwertung 
des Gelds dem allgemeinen Stand der Wirtschaft 
zuwiderlief“. Auch dann, als tatsächlich die Geld- 
wirtschaft sich mehr entfaltete, wie im 12. Jahrh. 
in Italien, bot wohl kaum schon das Geld all- 
gemein die reale Möglichkeit der Nutzung, die 
es heute besitzt, und deswegen bestand keine Ver- 
anlassung, das Zinsverbot aufzuheben. Schwer- 
lich hat man jedoch auch im Mittelalter den Cha- 
rakter des Kapitals so gründlich verkannt, wie 
Simmel (Philosophie des Gelds 233) meint: 
als im 13. Jahrh. größere Kapitalvermögen auf- 
kamen, sei das Kapital ein Machtmittel gewesen, 
das der Masse des Volks noch unbekannt war. 
„Ganz abgesehen davon, daß Kirche und Volk 
damals das Geldgeschäft überhaupt verwerflich 
fanden .., mußte die Ausnutzung einer so mysti- 
schen und unberechenbaren Macht, wie das Kapital
	        
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