Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

109 
sitiv fördernde Tätigkeit im gebräuchlichen staats- 
rechtlichen Sinn ausüben würde, müßte er trotz- 
dem eine Zuständigkeit zu Amtshandlungen 
schaffen, die nicht richterliche Tätigkeit sind, näm- 
lich zum mindesten die Kompetenz zur Besetzung 
der Richterstellen. Wenn man den umgekehrten 
Zustand, bei dem also der Staat abgesehen von 
Normen für die Allgemeinheit nur solche Rechts- 
sätze schaffen würde, die eine Zuständigkeit der zu 
berufenden Organe lediglich zu positiv fördernder 
Tätigkeit schaffen würden, bei dem also richter- 
liche Kompetenzen vollständig fehlen würden, theo- 
retisch konstruiert — praktisch kommt allerdings 
in den Anfängen der Rechtsentwicklung stets der 
dem ersterwähnteun ähnliche Zustand vor, eine po- 
sitiv fördernde Staatstätigkeit entfaltet sich neben 
der richterlichen nur sehr langsam —, so wäre in 
diesem das Fehlen jeder Richterfunktion zwar lo- 
gisch denkbar, aber es ist praktisch ausgeschlossen. 
Es müßte übergeordnete Organe geben, welche 
bezüglich der Amtspflichterfüllung der untergeord- 
neten richten müßten, es wären richterliche Ent- 
scheidungen gegenüber Privaten in Bezug auf die 
diesen im Hinblick auf die positiv fördernde Staats- 
tätigkeit obliegenden Pflichten (Unterlassung von 
Widerstand, positive Mitwirkung) erforderlich. Da 
alles menschliche Handeln in seinem innern Wesen 
nur teleologisch zu erklären ist, so ergibt sich für 
die richterliche Staatsfunktion im Zusammenhang 
mit den übrigen Rechtsausführungsakten, daß sie, da 
sie gleich diesen die Ausführung gesetzten Beamten- 
rechts bezweckt, ihrem Wesen nach ebenso zu be- 
urteilen ist wie diese, zumal die nicht richterlichen 
Handlungen, die der Richter zum Zweck der Fällung 
des Richterspruchs vornimmt, noch dem beson- 
dern mit diesem verfolgten Zweck dienen, wie 
anderseits richterliche Funktionen der Verwal- 
tungsbeamten den besondern Zweck der spezifisch 
verwaltenden Tätigkeit verfolgen. 
am deutlichsten spricht diese Eingliederung der 
im herkömmlichen Sinn richtenden in die verwal- 
tende Staatstätigkeit Bornhak aus: Die richter- 
liche Gewalt „bietet ihrem Inhalt nach keine be- 
sondere Richtung der Staatstätigkeit dar..Wo- 
durch die richterliche Tätigkeit sich aus der anderer 
Staatsorgane heraushebt, ist nur die formelle 
Seite, die verfassungsrechtliche Unabhängigkeit 
gegenüber dem Monarchen, die verwaltungsrecht- 
liche gegenüber den Organen der Justizaufsicht 
und die besondere prozeßrechtliche Form unter An- 
hörung und Mitwirkung der Parteien, worin sich 
das Verfahren abspielt"“. 
Daß das vom Richter oft anzuwendende Pro- 
zeßrecht seine Tätigkeit nicht in systematischen 
Gegensatz zu den übrigen Staatsverwaltungs- 
akten setzt, ergibt eine kurze Betrachtung des 
Wesens des Prozesses. Setzt man den Fall, daß 
die rechtsausführenden Organe in der Wahl der 
Mittel zur Tatbestandsfeststellung völlig freie 
Hand haben, so ergeben sich zwei mit der Be- 
schränktheit des menschlichen Verstands und der 
Staatsverwaltung ufw. 
  
110 
Freiheit des menschlichen Willens zusammen- 
hängende mißliche Möglichkeiten: viele rechtsaus- 
führende Organe werden unzweckmäßige Mittel 
zur Ermittlung des Sachverhalts anwenden, 
andere werden ihre von den Gliedern der Rechts- 
gemeinschaft zu respektierende Macht bei dieser 
Ermittlung nicht in sozialem Interesse gebrauchen, 
sondern in egoistischem mißbrauchen. Dem Zweck 
der möglichsten Minderung dieser beiden Möglich- 
keiten, die es freilich wegen der Unvollkommenheit 
des Rechts als eines Produkts des Menschengeistes 
nie zu beseitigen vermag, dient das Prozeßrecht; 
es soll eine Zweckmäßigkeitsregel für die Beamten 
und ein Schutz der Glieder der Rechtsgemein- 
schaft gegen die Willkür derselben sein. Wegen 
der Schwierigkeit der abstrakten Reglung der 
mannigfachsten Lebensvorgänge muß freilich auch 
im Prozeßrecht an vielen Stellen dem rechtsaus- 
führenden Organ nur allgemein ein Handeln 
nach pflichtgemäßem Ermessen, ein zweckmäßiges 
Handeln, zur Pflicht gemacht werden, ohne daß 
die einzelnen vorzunehmenden Akte näher bestimmt 
werden können, wodurch sich dann wieder die 
Möglichkeit unzweckmäßigen und unmoralischen 
Vorgehens ergibt. Als Korrelat dienen einerseits 
alle jene Normen, die die intellektuellen und mora- 
lischen Voraussetzungen der Berufung zur Rechts- 
ausführung enthalten, anderseits die Bestim- 
mungen über die Verbrechen und Vergehen im 
Amt, die den rechtsausführenden Organen im all- 
gemeinen und insbesondere den Richtern schwere 
Nachteile für Pflichtvernachlässigungen androhen, 
sei es daß es sich — wie bei den uneigentlichen 
Beamtendelikten — um Normen handelt, die für 
jedes Glied der Rechtsgemeinschaft ohne Rücksicht 
auf seine Beamtenqualität gelten, und deren Über- 
tretung gelegentlich der Rechtsausführung nur 
chwerer geahndet wird, sei es daß — wie bei den 
eigentlichen Beamtendelikten — eine Willensbe- 
tätigung unter Strafe gestellt ist, die sich als 
Kompetenzüberschreitung oder als Unterlassen einer 
durch die Kompetenz gebotenen Handlung dar- 
stellt, die also nur dann strafbar ist, wenn sie von 
einem rechtsausführenden Organ begangen wird, 
wobei wieder gewisse Beschränkungen allen Be- 
amten obliegen (vgl. z. B. 8 341 des Reichsstraf- 
gesetzbuchs; Fall des „allgemeinen Amtsdelikts"), 
andere nur den Beamten einer bestimmten Gattung 
(ogl. z. B. § 346 a. a. O. besonderes Amtsdelikt). 
Aus dem Zweck der Prozeßrechtsnormen ergibt 
sich daher: das Prozeßrecht ist nicht nur der spe- 
zifisch richtenden, sondern überhaupt der rechts- 
ausführenden Staatstätigkeit eigentümlich; daher 
haben viele Staatsorgane nach positivem Recht 
bei nicht richterlicher Tätigkeit Prozeßrechtsnormen 
zu beobachten. 
Anderseits sind die Richter vielfach bei der Er- 
mittlung von Tatbeständen nicht an die Beobach= 
tung von Verfahrensgrundsätzen gebunden, wenn- 
gleich im allgemeinen wegen der Wichtigkeit und 
Schwierigkeit der von dem Zivil= und Straf- 
—
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.