Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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richter im Sinn moderner Staatsfunktionen- 
sonderung zu treffenden Feststellungen das Zivil- 
und Strafprozeßrecht besonders ausgedehnt und 
ausgebaut ist. 
a) Verfahrensnormen sind nicht nur dann von 
den Verwaltungsbeamten zu beobachten, wenn 
sie, wie z. B. im Verwaltungsstreitverfahren, im 
Disziplinarstrafverfahren, bei der Handhabung der 
Ehrengerichtsbarkeit, im Verfahren wegen Zoll- 
und Steuerdefraudationen, bei der Verhängung 
von Strafen für Porto-, Steuer= und Stempel- 
hinterziehung, bei der Bestrafung leichterer, end- 
gültig auf Verlangen des Bestraften im ordent- 
lichen Rechtsweg zu erledigender Delikte, richter- 
liche Funktionen ausüben, sondern vielfach auch 
bei nichtrichterlicher Tätigkeit. Wenn der Antrag 
auf Genehmigung eines der im § 16 der Gewerbe- 
ordnung für das Deutsche Reich verzeichneten Ge- 
werbe, welche durch ihre örtliche Lage oder die 
Beschaffenheit der Betriebsstätte für die Besitzer 
oder Anwohner oder das Publikum überhaupt 
erhebliche Nachteile herbeiführen können, so hat die 
zuständige Behörde nach einem Ediktalverfahren 
in öffentlicher kontradiktorischer Verhandlung Be- 
schluß zu fassen, der Standesbeamte hat vor einer 
Ehescheidung in besonderem Verfahren das Nicht- 
vorhandensein von Ehehindernissen festzustellen, 
ein besonderes Verfahren haben die Aufsichtsbe- 
hörden über Privatversicherungsunternehmungen 
(8§ 70 ff des Reichsgesetzes über die privaten Ver- 
sicherungsunternehmungen) bei ihrer Tätigkeit, das 
Reichsbankkuratorium bei Ausübung der staat- 
lichen Hoheitsrechte über die Reichsbank, die Post-, 
Telegraphen- und Eisenbahnbehörden, und zwar 
nicht nur in Bezug auf den innern Geschäftsgang, 
sondern auch gegenüber dem Publikum, zu be- 
obachten. Auch die im Aufgebotsverfahren vom 
Zivilrichter zu beobachtenden Formvorschriften sind 
solche für eine nicht richterliche, rechtsausführende 
Tätigkeit, da man dieses Verfahren, weil es nicht 
den Schutz, sondern die Begründung von Rechts- 
verhältnissen bezweckt, mit Recht zur freiwilligen 
Gerichtsbarkeit rechnet. 
b) Was umgekehrt die richterliche Tätigkeit an- 
langt, so ist nach geltendem Reichsrecht für die 
Zivil= und Strafjurisdiktion allerdings unter allen 
Umständen die Beobachtung bestimmter Form- 
vorschriften in Bezug auf die Mündlichkeit und 
Offentlichkeit erforderlich; aber der Inhalt der be- 
züglichen Rechtsvorschriften ist nicht begriffsnot- 
wendiger Bestandteil der zivil- und strafrichter- 
lichen Tätigkeit. Wie nach der Wichtigkeit der zur 
Entscheidung stehenden Straf- und Zivilsachen die 
zu beobachtenden Formen erschwert bzw. erleichtert 
sind, so wäre es mit der richterlichen Tätigkeit als 
solcher vereinbar, wenn z. B. in Fällen von ganz 
geringer Bedeutung nicht nur von der sörmlichen 
Erhebung der Klage, sondern auch von dem Grund- 
satz der Offentlichkeit und Mündlichkeit abgesehen 
werden dürfte. Jedenfalls fehlen mitunter Form- 
vorschriften für die richterliche Tätigkeit von Ver- 
Staatsverwaltung ufw. 
  
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waltungsbeamten, z. B. für eine polizeiliche Straf- 
verfügung. 
8. Verwaltung und Justiz im dog- 
matischen und historisch gegebenen Sinn. 
Einen besondern Charakter gegenüber den allge- 
meinen Pflichten haben ihrem Inhalt nach die 
Amtspflichten. Durch die besondere Stellung, 
welche die Organe des Staats durch ihre Tätig- 
keit als solche im Verhältnis zur Allgemeinheit 
einnehmen, ist eine Scheidung der speziell für sie 
geltenden Rechtsnormen von den für jedermann 
im allgemeinen erlassenen, also eine Scheidung 
nach dem Rechtspflichtsubjekt, gerechtfertigt und 
selbst dann durchzuführen, wenn in einem Einzel- 
fall einem Staatsorgan und einer Privatperson 
dieselbe Handlung zur Pflicht gemacht wird (z. B. 
die Hilfeleistung bei Feuersgefahr). Dement- 
sprechend ist auch die Einteilung der staatlichen 
Rechtspflege in die privat= und strafrechtliche, 
welche auf der Überordnung des Staats über 
seine Glieder beruht, und in die staatsrecht- 
liche, welche durch das besondere Subordinations- 
verhältnis, in welchem die Organe des Staats 
zu diesem stehen, bedingt ist und welche eine 
Rechtskontrolle über ihre Tätigkeit zum Zweck 
hat, gerechtfertigt. Im Gebiet dieses Beamten- 
rechts spielt die richterliche Funktion, soweit das 
Verhältnis des einen Beamten zum andern in 
Frage kommt, hauptsächlich insofern eine Rolle, 
als sie sich auf die Feststellung vergangener Pflicht- 
erfüllung oder = vernachlässigung bezieht (Diszi- 
plinarrecht). Doch kommen auch auf diesem Ge- 
biet richterliche Feststellungen in Bezug auf künftig 
zu erfüllende Amtspflichten vor. So ist einem 
preußischen Richter gegenüber, dem ein geringes 
Dienstvergehen zur Last fällt, nachdem von ihm 
eine Erklärung erfordert worden, die ordnungs- 
widrige Ausführung des Amtsgeschäfts zu rügen, 
er ist aber auch zu dessen rechtzeitiger und sach- 
gemäßer Erledigung zu ermahnen. Das Gebiet 
des Disziplinarrechts ist jedoch keineswegs das 
einzige, auf welchem ein Beamter gegenüber einem 
andern richtend tätig wird. Dies ist vielmehr 
auch bei zahlreichen andern Beschlüssen und Ver- 
fügungen, soweit sie die oben dargelegten Eigen- 
schaften haben, der Fall. 
Natürlich hat nicht ein jedes Einzelgebot die 
Natur einer richterlichen Sentenz, wie anderseits 
nicht jede richterliche Entscheidung (z. B. das Urteil 
ineiner Feststellungsklage, die Klageabweisung sw.) 
nicht unmittelbar eine Anordnung zum Gegen- 
stand hat. Nur in den Fällen, in denen jemand 
auch ohne eine solche seiner Verpflichtung genügen 
muß, d. h. in denen der Richterspruch über die in 
Rede stehende Verpflichtung diese nicht erst er- 
zeugt, sondern nur feststellt, sowie ferner in allen 
denjenigen Fällen, in denen über vergangenes 
Verhalten gegenüber Rechtspflichten entschieden 
wird, läßt sich unter Berücksichtigung des allge- 
meinen, insbesondere des Sprachgebrauchs auf 
dem Gebiet der Ethik, von eigentlich richtender
	        
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