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unterschieden wurde. Die Durchführung dieses
Kampfes erinnert deutlich an die erlaubte Selbst-
hilfe und die rechtmäßige Fehde der ältesten Zeit.
Kam es zum Beweisverfahren, so war der Be-
weis von der Partei (Sacher, ahd. sachari) dem
Gegner (Widersacher, ahd. widarsacho) zu lie-
fern, nicht dem Gericht, dem eine Beweiswürdi-
gung nicht zustand. Die Beweisführung hatte
einen durchaus formalen Charakter; der Beweis
wurde durch gewisse Parteihandlungen unwider-
leglich erbracht, nämlich durch den Parteieid (Ein-
eid oder Eid mit Helfern) oder durch das Gottes-
urteil einschließlich des gerichtlichen Zweikampfs.
In jenen einfachen Zeiten waren Unwahrhaftigkeit
und Hinterlist so selten, daß diese auf sakraler
Grundlage beruhenden Beweisformen nach allge-
meiner Volksüberzeugung als untrüglich galten.
Die Beweisführung wurde als Recht des freien
Mannes, angesehen nicht als Last, und der Richter
hatte nur darüber zu entscheiden, welche Partei
„näher zum Beweis“ war. Der Zeugenbeweis
war grundsätzlich ausgeschlossen.
2. Erst in der fränkischen Zeit finden wir den
Zeugenbeweis, aber nur in sehr beschränktem Um-
fang zugelassen, wie auch erst die mitteldeutsche
Sprache die dem heutigen „Zeugen“ entsprechen-
den Worte giziug, getüch, ghetuich, tiuga auf-
weist. Zeuge bedeutet wörtlich der Gezogene (von
ziohan, ziehen) und erkkärt sich aus der altarischen
Rechtssitte, die Urkundspersonen am Ohr zu
ziehen; bei einzelnen Stämmen, so bei Bayern
und Burgunden, war dieses Ziehen sogar Rechts-
vorschrift; in bayrischen Urkunden werden die
testes per aures tracti bis ins 13. Jahrh.
erwähnt. Wenn die lateinischen Quellen der frän-
kischen Zeit testimonium und testis zuweilen
auch für den Eidhelfer gebrauchen, so ist damit
wohl der geschichtliche Anknüpfungspunkt des
Zeugenbeweises angedeutet. Nicht jedermann konnte
als Zeuge gezogen werden. Regelmäßig waren
nur Geschäftszeugen zulässig, d. h. Personen,
welche zu dem von ihnen zu beurkundenden Rechts-
akt besonders zugezogen oder bei zufälliger An-
wesenheit ausdrücklich als Urkundspersonen be-
rufen worden waren. Daneben wurden als Ge-
meindezeugen über orts= oder gemeindekundige
Tatsachen Nachbarn oder Gemeindegenossen zu-
gelassen, z. B. bei Grenzstreitigkeiten, Besitzfragen.
Zufällige Augen= und Ohrenzeugen waren aus-
geschlossen. Zeugnisfähig waren nur freie und gut
beleumundete Personen; bei den Gemeindezeugen
wurde außerdem der Nachweis eines bestimmten
Vermögens — Grundeigentum bei den Franken,
ein der Zeugenbuße wegen falschen Zeugnisses
entsprechendes Vermögen bei Bayern und Lango-
barden — gefordert. Zur Führung des Zeugen-
beweises waren je nach dem Stammesrecht min-
destens drei oder zwei, bei Gemeindezeugen
mindestens sieben Zeugen notwendig. Eine öffent-
lich-rechtliche Zeugnispflicht bestand nicht und die
privatrechtliche Verpflichtung zur Zeugnisleistung
Zeugenbeweis ufsw.
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konnte nur durch einen entgeltlichen Vertrag (Ur-
kundsgeld, Weinkauf) begründet werden. Auch
der Zeugenbeweis trug im ordentlichen Gerichts-
verfahren denselben sormalen Charakter wie die
älteren Beweismittel: der Zeuge wurde nicht etwa
vom Richter über sein Wissen vernommen, son-
dern beschwor das im Urteil festgestellte Beweis-
thema durch einen assertorischen Eid (lex Alam.
2, 1: hoc per sacramentum dicant: quod
nos veri testes sumus); dieser Eid konnte nicht
angefochten werden. Bei Gemeindezeugen wurde
seit Ludwig dem Frommen der Gegenpartei die
Aufstellung von Gegenzeugen gestattet; den Wider-
spruch der Zeugenreihen entschied der Zweikampf
zwischen einem Zeugen und einem Gegenzeugen.
Für die Fortbildung des Beweisrechts war von
großer Bedeutung die außerordentliche Gerichts-
barkeit der Königsgerichte, bei welchen der
Richter in Zivilsachen befugt war, von Amts
wegen Inquisitionszeugen zu laden und
nach Leistung eines promissorischen Eides über be-
stimmte Fragen zu vernehmen. Hier waren die
Zeugen kraft ihrer Treuepflicht als Untertanen
verpflichtet, dem König Gerichtsfolge zu leisten
und zur Ermittlung der Wahrheit durch ihre
Aussage behilflich zu sein.
3. Die Rechtsentwicklung im Mittelalter ist
charakterisiert durch ein allmähliches Verschwinden
der von der Kirche bekämpften Gottesurteile und
ein immer weiter gehendes Vordringen des In-
quisitionszeugenbeweises. Das Verfahren gestaltete
sich nunmehr verschieden, je nachdem es sich um
Zivilsachen oder Strafsachen handelte, und auf
dem Gebiet des Strafverfahrens traten Formen
des Offizialverfahrens in den Vordergrund, welche
der gegen Ende der Periode eintretenden Rezep-
tion des römisch-kanonischen Rechts die Wege
ebneten. Den Abschluß fand diese Entwicklung in
der peinlichen Gerichtsordnung Karls V. von
1532, Ct(onstitutio) C(riminalis) Ctarolina).
Der Kern des neuen Rechts lag in dem auf den
fremden Rechten beruhenden und von der italieni-
schen Rechtswissenschaft ausgebildeten schriftlichen
inquisitorischen Verfahren durch beamtete Berufs-
richter. Der Strafprozeß ist nicht mehr ein vor
Gericht geführter Rechtsstreit der Parteien, son-
dern die amtliche Untersuchung eines Streitfalls
durch den Staatsbeamten. Der Beweis wird nicht
mehr der Gegenpartei, sondern dem Richter er-
bracht (iudici fit probatio). Der Angeklagte ist
nicht mehr ein dem Ankläger gleichberechtigtes
Prozeßsubjekt, sondern ein Prozeßobjekt, aus dem
die Allmacht und gelehrte Kunst des Inquirenten
ein Geständnis, möglicherweise unter Anwendung
der Folter, herauszubringen sucht. Gegen richter-
liche Willkür bieten die gesetzlichen Beweisvor-
schriften des Inquisitionsprozesses einen unge-
nügenden Schutz. Die gesetzliche Beweistheorie
unterscheidet zwischen unfähigen, verdächtigen und
klassischen Zeugen. Voller Beweis wird durch die
übereinstimmende Aussage zweier tauglichen und