Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Stütze für das Reich und die heutige Gesellschafts- 
ordnung erblickt; sie kann dem Juristen, der das 
Recht auf die Einzelfälle des Lebens anwendet, 
und der Rechtswissenschaft, welche diese Anwen- 
dung sichert und erleichtert, den Vorteil der Kon- 
zentration aller rechtswissenschaftlichen Kräfte auf 
die Vertiefung und die Fortbildung dieses Rechts 
gewähren. Und hat die Zivilgesetzgebung ihre 
Aufgabe richtig erfaßt und gelöst, dann fördert 
die Vereinheitlichung des Rechts von ihrer Grund- 
lage aus die ganze Kulturentwicklung eines Volks. 
Zwar hat nach der Auffassung der historischen 
Rechtsschule der Gesetzgeber nicht Recht zu schaffen, 
er hat das in der Überzeugung des Volks vor- 
handene Recht, die gemeinsame Rechtsüberzeugung, 
nur festzustellen und zu redigieren. Und nach der 
sozialistischen Geschichtsauffassung, welche das 
geltende Recht als Recht der herrschenden Klassen 
bezeichnet, soll Recht überhaupt nur sein, was der 
jeweiligen Wirtschaft entspricht, so daß die Ver- 
wirklichung der Idee der Gerechtigkeit nach beiden 
Auffassungen von dem Gesetz nicht gefordert wird. 
Aber die Gesetzgebung hat die Aufgabe, diesem 
Ideal entgegenzustreben und auf eine Anderung 
der herrschenden Zustände insoweit fortbildend hin- 
zuwirken, als dieselben der Gerechtigkeit nicht ent- 
sprechen. Die Zivilgesetzgebung wirkt mithin kul- 
turfördernd, indem sie nach methodischem Plan 
eine Reglung der bürgerlichen Rechtsverhältnisse 
mit dem Zweck der Erzwingung eines der Ge- 
rechtigkeit entsprechenden Verhaltens der Berech- 
tigten und Verpflichteten vornimmt. 
Das B. G.B. hat sich in seinem Plan an das 
Pandektensystem angeschlossen, für dessen Gliede- 
rung die innere Verschiedenheit der zu regelnden 
Lebensverhältnisse maßgebend war. Deren Haupt- 
unterschied ist das Verhältnis des einzelnen als 
Vermögensinhaber und als Familienglied sowie 
in ersterer Beziehung sein Verhältnis zu seinem 
Vermögen bei Lebzeiten und nach seinem Tod. 
Daraus ergibt sich die Gliederung in das Recht 
der Schuldverhältnisse, das Sachenrecht, das Fa- 
milienrecht und das Erbrecht. Vorausgeschickt sind 
diesen vier Büchern in einem allgemeinen Teil 
diejenigen Rechtssätze und Rechtsinstitute, welche 
allen Teilen des Systems gemeinsam sind. Als 
Privatrechtsgesetzbuch enthält das B.G.B. keine 
Vorschriften über sich selbst; diese sind der Reichs- 
verfassung zu entnehmen (Verf.-Urk. Art. 2). Auch 
für seine Auslegung hat das B.G.B. keine Vor- 
schriften aufgestellt, sie sind der Rechtswissenschaft 
und der Rechtsprechung zu entnehmen. Allen 
physischen Personen ist die Rechtsfähigkeit gewähr- 
leistet, so daß auch die Ordenspersonen rechtsfähig 
sind; doch ist den Landesgesetzen überlassen, deren 
Erwerb durch Schenkung und von Todes wegen 
bei mehr als 5000 kJ1 zu beschränken. Die Ent- 
mündigung ist auch wegen Geistesschwäche und 
wegen Trunksucht zugelassen. Vereine werden 
durch Eintragung in das Vereinsregister des zu- 
ständigen Amtsgerichts, Stiftungen durch staat- 
Zivilgesetzgebung. 
  
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liche Genehmigung rechtsfähig. Die Eintragung 
darf den Vereinen nur versagt werden, wenn sie 
wirtschaftliche Geschäfte betreiben oder einen reli- 
giösen, politischen oder sozialpolitischen Zweck 
verfolgen, oder wenn sie nach dem öffentlichen 
Vereinsrecht zu verbieten sind. Für Vereine mit 
wirtschaftlichem Geschäftsbetrieb gelten Sonder- 
gesetze. Über andere juristische Tatsachen als die 
Rechtsgeschäfte enthält das B.G. B. keine all- 
gemeinen Vorschriften. Für die Rechtsgeschäfte 
gilt Formfreiheit als Regel, ausnahmsweise er- 
fordert das Gesetz Schriftlichkeit oder gerichtlichen 
oder notariellen Abschluß oder öffentliche Beglau- 
bigung der Unterschrift der Beteiligten oder die 
Errichtung vor Gericht oder Notar bei gleichzei- 
tiger Anwesenheit beider Teile. In letzterer Be- 
ziehung kommt namentlich die Grundstücksauflas- 
sung in Betracht. Scharf durchgeführt ist im 
Verkehrsinteresse die Trennung des obligatorischen 
von dem dinglichen Vertrag; dies hat zur Wir- 
kung, daß Mängel des obligatorischen Vertrags 
das dingliche Erfüllungsgeschäft nicht ergreifen, so 
daß letzteres gültig bleibt, auch wenn ersterer an- 
gefochten wird. Unser Rechtsverkehr vollzieht sich 
in seiner großen Masse durch die Eingehung von 
Verträgen; das B.G.B. beruht auf dem Prinzip 
der Vertragsfreiheit. Zum Schutz gegen deren 
Mißbrauch ist bestimmt, daß Rechtsgeschäfte, welche 
gegen die guten Sitten verstoßen, nichtig sind, daß 
jede Rechtsausübung unzulässig ist, welche nur den 
Zweck hat, einem andern Schaden zuzusügen, so- 
wie daß jeder Vertrag so auszulegen und seine 
Erfüllung so zu bewirken ist, wie Treu und 
Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es 
erfordern. Noch kein Gesetzbuch hat gewagt, im 
Interesse der Gerechtigkeit so weit zu gehen wie 
das B.G.B. und alle Wuchergeschäfte für nichtig 
zu erklären, gleichgültig ob Geld= oder Sach- 
wucher, Kauf oder Miete oder eine andere Ver- 
pflichtung vorliegt. Der Schutz gegen Rechtsmiß- 
brauch ist in verschiedenen Wendungen bei den 
einzelnen Schuldverhältnissen in seiner Durch- 
führung gesichert. Der Grundsatz von Treu und 
Glauben zwingt den Richter mit Bezug auf die 
Auslegung des Inhalts des Vertrags und auf 
seine Erfüllung zur Ermittlung dessen, was nach 
dem Willen der Parteien das Richtige, das Ge- 
rechte ist. Um der Gerechtigkeit gerecht zu werden, 
verweist das B.G.B. in immer neuen Wendungen 
über den Wortsinn der Verträge hinaus auf die 
Beachtung der sittlichen Pflicht, auf gewichtige 
Gründe, auf die verständige Würdigung, ja direkt 
sogar auf die Billigkeit oder auf das billige Er- 
messen. Allerdings hat damit das Gesetzbuch einen 
Teil seiner Sorge auf den Richterstand abgewälzt, 
es ist das aber nur geschehen, wo die Fesselung 
der Rechtsverhältnisse an einen allgemeinen zwin- 
genden Rechtssatz im Einzelfall zu einem unbil- 
ligen Ergebnis hätte führen können und müssen, 
während vertraut werden durfte, daß die Recht- 
sprechung dem Einzelfall werde gerecht werden.
	        
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