1305
Allgemeiner Gerichtsordnung vom 6. Juli 1793.
Die Reformversuche der übrigen deutschen Staaten
aeden sich auf dem Boden des gemeinen Pro-
zesses.
Für das gemeinrechtliche Prozeßverfahren galt
der Grundsatz der Parteiherrschaft, nach welchem
die Parteien über Beginn, Inhalt und Fort-
führung des Rechtsstreits ausschließlich zu ent-
scheiden haben. Um aber dem Prozeß Sicherheit
und Ordnung und der Urteilsfällung eine in den
Akten festgebettete Unterlage zu geben, war die
Schriftlichkeit des Verfahrens derart zur
Grundmaxime des Prozesses erhoben, daß die
Parteischriften und die Verhandlungsprotokolle
die unveränderbare Grundlage der Entscheidung
bildeten. Eine formale Beweistheorie sollte richter-
liche Willkür verhindern, eine strenge Gliederung
des Verfahrens in stofflich geschiedene präklusivische
Abschnitte (Prinzip der Beweistrennung, rechts-
kräftiges Beweisinterlokut) die Parteien zur Zu-
sammenfassung und Ordnung des Streitstoffs
zwingen. Jeder Schriftsatz hatte seinen bestimmten
Inhalt und selbst für diesen eine bestimmte Reihen-
folge (Eventualmaxime). Infolge dieses Zwangs
entbehrte das Verfahren der Natürlichkeit, Ein-
fachheit und Verständlichkeit. Die Schriftsätze
machten dasselbe uneinheitlich und schleppend und
entzogen den in den Akten ruhenden Streitstoff der
Offentlichkeit. Je ausgebildeter das Ver-
fahren wurde, um so fremder wurde dasselbe der
Bevölkerung. Diese wendete sich immer mehr von
dem heimlichen, schriftlichen Prozeß ab und ver-
langte immer lauter nach einem rascheren, münd-
lichen und öffentlichen Rechtspflegeverfahren. Einen
neuen mächtigen Impuls erhielten diese Bestre-
bungen durch die politische Bewegung des Jahrs
1848, welche zugleich auf das Vorbild Frankreichs
als des nachzustrebenden Musters hinwies, dessen
Code de procédure in Rheinpreußen, Rhein-
hessen, Baden und der bayrischen Pfalz in unver-
änderter Geltung war.
Der französische Prozeß beruht auf der
Verteilung von Recht und Faktum zwischen Ge-
richt und Parteien. Der Prozeßbetrieb liegt in
den Händen der Parteien. Die Einleitung der
mündlichen Verhandlung erfolgt dadurch, daß die
Anwälte ihre motivierten Konklusionen (Gesuche
und deren Begründung) verlesen und dieselben bei
dem Gericht hinterlegen. Im Lauf der Verhand-
lung können die Anwälte ihre Konklusionen
ändern, müssen aber die Abänderungen schriftlich
zum Sitzungsprotokoll überreichen. Das Verlesen
der motivierten Konklusionen macht den Rechts-
streit derart kontradiktorisch, daß von nun ab kein
Versäumnisurteil ergehen kann, auch wenn der
Anwalt in der zur mündlichen Verhandlung der
Sache bestimmten Sitzung nicht erscheint. Die
Sache erscheint mit diesem Akt aber auch zur Ent-
scheidung reif (en état), so daß die Urteilsfällung
durch eine in der Zwischenzeit in der Person der
Partei oder ihres Anwalts eintretende Anderung
Zivilprozeß.
1306
nicht gehindert wird. Den von den Parteien vor-
getragenen Streitstoff prüft der Richter, um nach
Feststellung des streitig Gebliebenen durch Beweis
Recht zu finden. Die Tätigkeit des Richters ist die
richterliche Funktion in ihrer Reinheit, die
urteilende. Der Code de procédure von 1806
ist bezüglich der Zuständigkeit und Organisation
der Friedensgerichte geändert durch Gesetz vom
12. Juli 1905.
Von dem französischen Verfahren verschieden
ist der englische Prozeß, welcher für das Ver-
fahren vor der Supreme Court 1883 neu ge-
regelt worden ist (Schuster, Rechtspflege in Eng-
land). Er zerfällt in zwei Hauptabschnitte: die
schriftliche Stofffsammlung und die mündliche
Sachentscheidung. Die zur Prozeßladung (writ
of summons) bestimmte Klageschrift muß den
Klageanspruch und alle denselben begründenden
Tatsachen enthalten. Die Verteidigungsschrift muß
sich über die vorgetragenen Tatsachen erklären und
alle Einreden vorbringen, da nicht bestrittene Tat-
sachen als zugestanden gelten. Replik und Duplik
äußern sich über die Behauptungen des vorher-
gegangenen Schriftsatzes. Es gilt die Eventual-
maxime. Die Vermittlung der Schriftsätze erfolgt
durch das Gericht. Bleiben im Schriftenwechsel
Tatsachen oder Rechtssätze unter den Parteien
streitig, so bringt die eifrigere Partei den Rechts-
streit zur mündlichen Verhandlung (trial); jede
Partei benennt erst in dieser ihre Beweismittel,
und auf Grund der Beweisführung erfolgt die
Entscheidung, welche nur die schriftlich von den
Parteien vorgebrachten Angriffs= und Verteidi-
gungemittel berücksichtigen darf. Eine Abänderung
der Schriftsätze kann jedoch in jedem Prozeß-
stadium, also auch in der mündlichen Verhand-
lung, vom Richter genehmigt werden. Die Beweis-
aufnahme soll regelmäßig in der Hauptverhand-
lung stattfinden. Beweisregeln existieren nicht.
Das Verfahren ist im allgemeinen von der Ver-
handlungsmaxime und dem Grundsatz der Un-
mittelbarkeit beherrscht; die mündliche Verhandlung
ist öffentlich. Das Verfahren ist im wesentlichen
gleich vor den Grafsschaftsgerichten (County
Courts) und der High Court of Justice, vor
dem Richter und vor der Jury, nur fällt in letz-
terem Fall die Jury das Verdikt über die Tat-
fragen, der Richter das Urteil über die Rechts-
fragen, während im Verfahren vor dem Richter
dieser sowohl das Verdikt als das Urteil abgibt.
Zulässig ist für einzelne Fälle die Verweisung des
Rechtsstreits an einen Spezialrichter (Referee),
sei es zur Untersuchung und zum Bericht oder zur
Verhandlung von Tatfragen, sei es zur Verhand-
lung des ganzen Rechtsstreits. — Im englischen
und französischen Prozeßrecht tritt die hohe Be-
deutung des kanonischen Prozesses hervor.
Von diesen Vorbildern unabhängig machte
Hannover 1850 den Versuch, unter Festhaltung
an dem gemeinen deutschen Prozeß an die Stelle
der Schriftlichkeit seines Verfahrens das Prinzip