Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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ständlich nicht an. Die psychiatrische Wissenschaft 
scheint zu einer genaueren Klassifizierung sowohl 
der fehlerhaften Bildungen als der Krankheiten 
noch nicht vorgeschritten zu sein. Es seien hier 
nur die wichtigsten kurz angegeben. Blödsinnige 
(Idioten) nennt man diejenigen, welche es fast 
nur zu sinnlichen, nicht aber zu übersinnlichen 
Vorstellungen bringen können; Schwachsinnige 
(Imbezillen) aber jene, die allerdings schon etwas 
mehr Verstandstätigkeit entwickeln, aber die wenigen 
übersinnlichen Vorstellungen, die sie zu bilden ver- 
mögen (daher auch die ethischen Begriffe von gut, 
böse, gerecht, ungerecht, Tugend, Laster usw.), nur 
recht unvollkommen bilden und schwer anwenden. 
Der sog. moralische Irrsinn dürfte sich als Blöd- 
sinn oder Schwachsinn für sittliche Urteile und 
sittliche Affekte charakterisieren lassen, da er in der 
geistigen Insuffizienz speziell zu Begriffen und 
Urteilen, die dem Gebiet der Sittlichkeit ange- 
hören, manchmal zum Erfassen des Unsittlichen 
mehr einzelner Handlungen besteht. Diese sonder- 
bare psychische Abnormität kann ihren Grund 
owohl in ererbter, daher angeborner Anlage (Ab- 
stammung von geisteskranken, epileptischen, alkohol- 
süchtigen Eltern), als auch, wenigstens in etwa, 
l arg vernachlässigter oder absichtlich depravieren- 
der Erziehung haben. Unter Manie versteht man 
einen affektartigen Zustand, der mit beschleunigtem 
Ablauf der Seelentätigkeit und starkem Bewe- 
gungsdrang verbunden ist. Nicht selten wendet 
sich der krankhafte Affekt und Drang etwas ganz 
Bestimmtem zu, z. B. dem Selbstmord, dem 
Stehlen, Trinken (Selbstmord-, Klepto-, Dipso- 
manie). Wahnsinnige oder Verrückte heißen die- 
jenigen, welche an krankhaften Einbildungen leiden, 
die dann selbstverständlich auch das Gemütsleben 
stören; auch unter diesen lassen sich je nach dem 
Gegenstand ihrer Einbildung verschiedene Gruppen 
namhaft machen; so spricht man von Größen- 
wahn, Verfolgungswahn, Querulantenwahn. Als 
krankhafter Zustand mehr des Gemüts= als des 
Geisteslebens ist anzusehen die Melancholie, die 
in der Erschwerung, wenn nicht gar völligen Auf- 
hebung der Willens= und Vorstellungstätigkeiten 
— mit Ausnahme des Gegenstands der krank- 
haften Niedergeschlagenheit — liegt. Außerdem 
seien noch erwähnt die epileptischen Anfälle, die 
nicht nur mit Unfähigkeit zu Geistestätigkeit, son- 
dern auch mit Wahnvorstellungen und Halluzina- 
tionen verbunden sein können; dann die Hysterie, 
die sowohl in krankhaften Gemüts= und Willens- 
erregungen (abnorme Reizbarkeit, Steigerung des 
Geschlechtstriebs usw.) als in Wahnvorstellungen 
und ähnlichem ihren Ausdruck findet. Fieber- 
delirien, Alkohol= und ähnliche Intoxikations= 
zustände, Schlaswandeln u. a. wurden schon nam- 
haft gemacht. 
Zur Zurechenbarkeit einer Handlung wird aber 
nicht nur erfordert, daß der Handelnde im be- 
treffenden Augenblick sich im Zustand der Zu- 
rechnungsfähigkeit besunden habe, sondern auch, 
  
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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daß die Handlung von seinem freien Willen aus- 
gegangen sei. Nach dem schon angeführten Axiom: 
Nihil volitum nisi cognitum, können demnach 
nur jene innern Akte oder jene äußern Hand- 
lungen sowie auch nur jene Folgen der innern wie 
der äußern Akte zugerechnet werden, die mit 
Bewußtsein vollzogen wurden. Auch der im vollen 
Gebrauchseiner Geisteskräfte sich befindende Mensch 
tut vieles teils nur mit halbem teils ohne alles 
Bewußtsein; auch bei ihm gibt es actus indeli- 
berati, semi-deliberati und deliberati. So ist 
das, was jemand in völliger Zerstreutheit oder 
Unachtsamkeit tut, ebensowenig zurechenbar als 
das, was er im Zustand des Berauschtseins voll- 
bringt. Wie schon bemerkt, sieht die Moral, und 
ebenso das Kirchenrecht, die nur cum semiplena 
deliberatione übernommenen Verpflichtungen als 
nicht bindend an. Aus diesem Grund wird auch 
derjenige, der ohne genügende Uberlegung einem 
andern Schaden zugefügt hat, von dem christlichen 
Sittengesetz, wenn man von den positiven Ge- 
setzen abstrahiert, zum Schadenersatz nicht für ver- 
pflichtet gehalten. Allerdings hat jeder die Pflicht, 
acht zu geben auf das, was er tut, und die etwaigen 
schädlichen Folgen seiner Handlungen zu verhüten. 
üÜberläßt er sich seinem Hang, nachlässig zu han- 
deln, obwohl er seine gegenteilige Pflicht erkennt, 
dann ist die Nachlässigkeit selbst gewollt und zu- 
rechenbar; in ihr sind ihm dann aber auch die aus 
ihr entstandenen weiteren Folgen, wenngleich er 
sie nicht im einzelnen, sondern nur im allgemeinen 
erkannte, zurechenbar. Ebenso kann derjenige, 
welcher geneigt ist, im Zustand der Trunkenheit 
Exzesse von was immer für einer Art zu begehen, 
für diese in sich betrachtet nicht verantwortlich 
gemacht werden; er hat aber die Verpflichtung, 
auch mit Rücksicht auf solche Exzesse sich vor der 
Trunkenheit zu hüten. Hütet er sich nicht, dann 
kann und muß er wie für die Trunkenheit selbst, 
so auch für das, was er in derselben tut, verant- 
wortlich gemacht werden. Dasselbe, was vor- 
stehend von Zerstreutheit und Unachtsamkeit gesagt 
wurde, gilt auch von der Unwissenheit; was in- 
folge von Unwissenheit geschieht, ist in sich nicht 
zurechenbar und kann es nur dann werden, wenn 
die Unwissenheit selbst gewollt oder zurechenbar 
war. Man kann demnach jemand, der bestimmte 
Wirkungen seines Handelns nicht vorausgesehen 
hat, nicht schon allein damit für dieselben verant- 
wortlich erklären, daß er sie hätte voraussehen 
müssen. Es ist strenge festzuhalten, daß nur das 
zurechenbar ist, was wenigstens in etwa erkannt 
wurde; was in keiner Weise erkannt wurde, ob- 
gleich es hätte erkannt werden sollen, das ist, weil 
nicht gewollt, auch nicht zurechenbar. Würde aber 
dieses Müssen erkannt, d. h. die Pflicht, sich vor 
der Handlung über die Folgen derselben Rechen- 
schaft zu geben, und hat man sich über diese Pflicht 
hinweggesetzt, dann, aber auch nur dann tritt die 
Zurechenbarkeit der Folgen des Handelns ein, 
weil dann eine, wenn auch nicht genaue, so doch
	        
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