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einzelnen Fall statthaben, und daß bei Feststellung
ihres Mangels eine Bestrafung nicht eintreten solle.
Auch die Wissenschaft der folgenden Zeit beschäf-
tigte sich mit dem Problem der Zurechnungsfähig-
keit. Schon Carpzov unterschied Grade geistiger
Defekte und befürwortete mildere Strafen bei
minderer Einsichtsfähigkeit und die ganze gemein--
rechtliche Literatur nimmt unter Berufung auf die
Peinliche Gerichtsordnung einen Zustand vermin-
derter Zurechnungsfähigkeit an. Es erscheint aber
im übrigen die Annahme nicht unberechtigt, daß
während dieser ganzen Periode den herrschenden
Zeitanschauungen entsprechend die Willensfreiheit
als Kern und unerläßliche Voraussetzung der Zu-
rechnungsfähigkeit angesehen worden ist. Jeden-
falls treten erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh.,
als der Materialismus auch in Deutschland größere
Geltung erlangte, deterministische Anschauungen
in noch zu erörterndem Sinn auf und suchten in
Wissenschaft und Gesetzgebung Einfluß zu ge-
winnen. Aber die Partikulärgesetzgebungen
dieser Periode und auch noch die des 19. Jahrh.
haben dem widerstanden und stehen fast ohne
Ausnahme auf dem Standpunkt jener alten Praxis,
wonach Zurechnungsfähigkeit von Bewußtsein und
freiem Willen bedingt ist. Das kommt allerdings
nicht mit dürren Worten in der Weise zum Aus-
druck, daß die Gesetze etwa die Zurechnungsfähig-
keit unter Verwendung dieser Begriffe definierten
oder die Erfordernisse der Zurechnungsfähigkeit
aufzählten. Derartiges geschieht überhaupt nicht.
Sie gehen vielmehr in der Art vor, daß entweder
ein allgemeiner Grundsatz aufgestellt wird, der
besagt, wann eine strafbare Handlung nicht an-
genommen werden dürfe, oder ohne Aufstellung
eines solchen allgemeinen Grundsatzes im einzelnen
die Gründe aufgezählt werden, gemäß denen eine
strafbare Handlung nicht vorhanden sei. Es bleibt
dann dem Richter bzw. der Wissenschaft überlassen,
durch Rückschlüsse klarzulegen, in welchem Ver-
hältnis der allgemeine Grundsatz bzw. die speziell
angegebenen Gründe zu dem Begriff der Zurech-
nungsfähigkeit stehen, inwieweit also eine an sich
strafbare Handlung aus dem Gesichtspunkt der
Unzurechnungsfähigkeit oder aus andern Gründen
als nicht vorhanden erklärt worden ist. Nach der
ersten Art sprach z. B. das Strafrecht des preußi-
schen Allgemeinen Landrechts den Satz aus: „Wer
frei zu handeln unvermögend ist, bei dem findet
kein Verbrechen, also auch keine Strafe statt"“,
aber auch, daß nur den die Strenge des Gesetzes
treffen soll, welcher das Strafgesetz zu wissen
schuldig und imstande ist. Man wird jene Frei-
heit, zu handeln, sowohl als psychische wie als
physische Freiheit anzusprechen haben und somit
annehmen müssen, daß das Landrecht auf dem
Standpunkt steht, daß eine Handlung dem Täter
dann nicht als strafbar zugerechnet werden könne,
wenn fie nicht seinem freien Willen entsprungen
sei. Deutlicher drückt sich das preußische Straf-
gesetzbuch von 1851 nach der zweiten Methode
Zurechnungsfähigkeit.
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aus, wenn es bestimmt: „Ein Verbrechen oder
Vergehen ist nicht vorhanden, wenn der Täter zur
Zeit der Tat wahnsinnig oder blödsinnig, oder die
freie Willensbestimmung desselben durch Gewalt
oder durch Drohungen ausgeschlossen war.“ Eine
eingehendere Exegese dieser Bestimmung kann hier
unterbleiben (nur zu einer interessante Verschieden-
heiten in der Auffassung aufdeckenden Vergleichung
dieser Bestimmung mit dem unten angeführten
§ 51 des Strafgesetzbuchs für das Deutsche Reich
möge angeregt sein), da schon der einfache Wort-
laut genügt, um festzustellen, daß wenigstens in
den beiden Fällen der Gewalt und Drohung die
Möglichkeit eines Ausschlusses der freien Willens-
bestimmung vorausgesetzt wird. Damit ist dann
die Fähigkeit des Menschen zu freier Willens-
bestimmung unumwunden anerkannt und zugleich
die Feststellung berechtigt, daß die Auffassung des
preußischen Strafgesetzbuchs von der Zurechnungs-
fähigkeit mit der oben unter I definierten überein-
trifft. Dann kann für unsere Zwecke hier dahin-
gestellt bleiben, ob die angezogene Bestimmung
zuläßt, daß auch Wahnsinn und Blödsinn in
derselben Richtung zur Konstruktion der Zurech-
nungsfähigkeit verwertet werden können, oder ob
sie diese beiden Zustände als selbständige Schuld-
ausschließungsgründe aufgefaßt wissen will. Auf
Grund derselben oder einer wenigstens sachlich
übereinstimmenden Ausdrucksweise wird man dann
noch eine Anzahl von Strafgesetzbüchern anderer
deutscher Partikularstaaten aus dieser Zeit für
dieselbe Auffassung in Anspruch nehmen dürfen.
So z. B. das sächsische Strafgesetzbuch von 1855,
wonach eine gesetzwidrige Tat nicht als Verbrechen
zugerechnet werden kann, wenn der Täter zur Zeit
der Tat nicht die Fähigkeit der Selbstbestimmung
besaß. So das Oldenburgische von 1857, das
unter den Gründen für die Unzurechnungsfähig-
keit auch die Ausschließung der freien Willens-
bestimmung unter bestimmten Umständen aufführt.
Bei denjenigen Gesetzbüchern dieser Periode,
welche zwar den Mangel geistiger Gesundheit unter
Aufzählung der mannigfachsten Formen, in denen
er sich kundgibt (z. B. Wahnsinn, Blödsinn, Ra-
serei, Melancholie, Verrücktheit, gänzliche Ver-
wirrung der Sinne oder des Verstands oder auch
Altersschwäche, die des Verstandsgebrauchs be-
raubt), als Grund dafür anführen, daß eine straf-
bare Handlung nicht anzunehmen sei, dagegen
keinerlei Hinweis auf die freie Willensbestimmung
in irgend einer Form enthalten, wird allerdings
der vorige Rückschluß, wenngleich er aus allge-
meinen Gründen naheliegt, nicht ohne weiteres
sich rechtfertigen lassen. Ein Beispiel dafür liefert
das Strafgesetzbuch für Bayern von 1813 (das
bayrische Strafgesetzbuch von 1862 führt als
Grund für die Unzurechnungsfähigkeit mangelnde
Fähigkeit der Selbstbestimmung auf), das ohne
einen solchen Hinweis unter einer Anzahl von
Nummern die Fälle aufzählt, in denen weder wegen
Vorsatz noch wegen Fahrlässigkeit eine gesetzwidrige