Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Handlung dem Täter zugerechnet werden könne. 
Hier erscheint vielmehr die Ansicht gerechtfertigt, 
daß der Verfasser dieses Gesetzbuchs, Feuerbach, 
seiner Auffassung der kriminalistischen Zurech- 
nungsfähigkeit als der Fähigkeit, sich durch Straf- 
androhung von der Begehung einer strafbaren 
Handlung abschrecken zu lassen, habe Ausdruck 
verleihen und seiner Abschreckungstheorie (Theorie 
des psychologischen Zwangs; vgl. Art. Strafe usw. 
unter 3b. Sp. 264) habe Gelltung verschaffen 
wollen. Das um so mehr, als unter die Strafaus- 
schließungsgründe gerade auch die Unkenntnis von 
der Strafbarkeit der Handlung ausgenommen ist, 
denn jemand, der keine Kenntnis von der Straf- 
barkeit seiner Handlung, von der Strafandrohung 
hat, kann sich auch nicht von einer solchen An- 
drohung abschrecken lassen. Nicht unerwähnt 
mag bleiben, daß ein größerer Teil der Gesetz- 
bücher dieser Zeit einen Zustand verminderter Zu- 
rechnungsfähigkeit anerkennt. Noch zu bemerken 
bleibt, daß die Gesetzbücher dieser Zeit mit sehr 
wenigen Ausnahmen (z. B. Sachsen) die Methode 
der voraufgegangenen Periode beibehalten und 
für die Zurechnungsfähigkeit keine Mindeststufe 
im Lebensalter voraussetzen, so daß also auch 
Kinder an sich als zurechnungsfähig angesehen 
werden müssen und es auf die Prüfung im ein- 
zelnen Fall ankommt. 
4. Das deutsche Reichsstrafgesetzbuch 
gehört zu denjenigen Gesetzbüchern der vorbezeich- 
neten Art, die ohne positive Feststellung des Be- 
griffs der Zurechnungsfähigkeit und ohne Auf- 
stellung eines allgemeinen Grundsatzes über ihre 
positiven Erfordernisse die Umstände aufzählen, 
durch welche die Zurechnungsfähigkeit als ausge- 
schlossen erachtet wird. Dabei wird das Wort 
Zurechnungsfähigkeit ebensowenig wie Unzurech- 
nungsfähigkeit oder Zurechnung auch nur genannt; 
nur der Ausdruck „zurechnen“ kommt zweimal in 
einer Bedeutung vor, die hier nicht weiter inter- 
essiert. Es ist also nach dem Strafgesetzbuch davon 
auszugehen, daß alle Menschen Zurechnungsfähig- 
keit besitzen, soweit sie ihnen nicht abgesprochen 
wird. Zu seinen Zwecken verfährt das Gesetzbuch 
in der Art, daß es in einem Abschnitt die „Gründe, 
welche die Strafe ausschließen oder mildern“, zu- 
sammenstellt, also äußerlich zwischen Schuld- 
und Strafausschließungsgründen nicht unterschei- 
det, und es der Rechtsprechung und Wissenschaft 
überläßt, in der oben näher erörterten Weise ihre 
Schlüsse auf seine Stellung zur Frage der Zu- 
rechnungsfähigkeit zu ziehen. (So verfährt auch 
der Vorentwurf zum neuen Strafgesetzbuch.) — 
Als erste Bestimmung, die hierfür in Betracht 
kommen kann, erweist sich der § 51. Er lautet: 
„Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, 
wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Hand- 
lung sich in einem Zustand von Bewußtlosigkeit 
oder krankhafter Störung der Geistestätigkeit be- 
fand, durch welchen seine freie Willensbestimmung 
ausgeschlossen war.“ Es ist ohne weiteres klar, 
Zurechnungsfähigkeit. 
  
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daß es sich hier um einen Grund handelt, durch 
den die Strafe um deswillen ausgeschlossen werden 
soll, weil die Handlung nicht auf die freie Willens- 
bestimmung zurückgeführt werden kann, also un- 
zweideutig um einen Unzurechnungsfähigkeits- 
grund. Die „Bewußtlosigkeit“ umfaßt alle jene 
zahlreichen transitorischen Störungen des Selbstbe- 
wußtseins wie Fieberdelirien, Trunkenheit, Schlaf- 
trunkenheit, Nachtwandeln, hypnotische Suggestion 
u. dgl. Natürlich ist hier nicht ein solcher Grad 
von Bewußtlosigkeit gemeint, der überhaupt den 
Begriff der Handlung ausschließt, sondern nur 
ein solcher, der „die freie Willensbestimmung 
ausschließt". Im Gegensatz zu diesen Erschei- 
nungen, welche meistens auf vorübergehenden 
körperlichen Zuständen beruhen, begreift der Aus- 
druck „krankhafte Störung der Geistestätigkeit“ 
alle abnormen Geisteszustände, nicht bloß wirk- 
liche Geisteskrankheit, und ist gerade gewählt, um 
die bedenklich erscheinende Aufzählung der einzelnen 
Formen der Geisteskrankheiten vermeiden zu 
können. Bewußtlosigkeit oder krankhafte Störung 
der Geistestätigkeit führen nach dem Gesetz aber 
nur dann zur Annahme der Unzurechnungsfähig- 
keit, wenn sie so beschaffen waren, daß durch sie 
die freie Willensbestimmung des Täters ausge- 
schlossen war. Das ist so zu verstehen, daß nicht 
die freie Willensbestimmung überhaupt ausge- 
schlossen sein muß, es genügt vielmehr, wenn sie 
nur für die spezielle zur Untersuchung stehende 
Tat ausgeschlossen war. Nach dem Gesetz ist Un- 
zurechnungsfähigkeit nur dann anzunehmen, wenn 
die freie Willensbestimmung vollständig ausge- 
schlossen war. Es gibt daher im Sinn des Gesetzes 
keine sog. „verminderte Zurechnungsfähigkeit"“. 
Man hat ihrer, die ursprünglich Aufnahme im 
Gesetz finden sollte, entbehren zu können erachtet, 
weil man für den mit ihr verfolgten Zweck der 
Strafmilderung in der Einführung der mildernden 
Umstände einen allgemeinen ausreichenden Ersatz 
zu haben glaubte. (In Betreff der Forderung für 
ihre Gestaltung im zukünftigen Recht vgl. d. Art. 
Strafrecht, Sp. 326; der Vorentwurf zum neuen 
Strafgesetzbuch hat sie bereits berücksichtigt, aber 
nicht im Sinn dieser Forderungen.) Ebensowenig 
wird ein sog. „moralisches Irresein“ (moral in- 
sanity) als Grund für die Ausschließung der Zu- 
rechnungsfähigkeit anerkannt, es sei denn, daß das 
moralische Irresein sich als krankhafte Störung 
der Geistestätigkeit äußert, durch welche die freie 
Willensäußerung ausgeschlossen war; denn die 
beiden im Gesetz angegebenen Zustände sind nicht 
etwa beispielsweise als mögliche Ursachen des 
Mangels freier Willensbestimmung angegeben, 
sondern sie sollen die Gründe erschöpfen. Der 
Zustand ist maßgebend, der zur Zeit der Begehung 
der Handlung bestand. War der Täter zu dieser 
Zeit unzurechnungsfähig, so ist es gleichgültig, ob 
er später, etwa bei Eintritt des Erfolgs seiner 
Handlung, zurechnungsfähig war. War er zu der 
Zeit zurechnungsfähig, wurde aber dann unzu-
	        
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