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Lesung stellten Zentrum und Konservative mehrere
Amendements. Das Zentrum wollte im Ge-
gensatz zur Regierungsvorlage nicht öffentliche
Körperschaften, sondern ausschließlich Privat-
personen und private Vereinigungen zu Trägern
der Bestattungspflicht im Fall der Leichenverbren-
nung machen. Der Abgeordnete Müller (Koblenz)
führte zur Begründung an, daß damit der Streit
um die Errichtung von Krematorien von den
Gemeinden fern gehalten, daß die Kosten nicht
von der ganzen Bürgerschaft, sondern ausschließ-
lich von der Minderheit, die die Leichenverbren-
nung wünsche, getragen würden und daß die
Gemeinden nicht in die Versuchung kämen, die
Möcglichkeit einer geringere Kosten verursachenden
Bestattungsart im Widerspruch mit den Wün-
schen der Mehrheit der Bürgerschaft zu benutzen
und dadurch den fakultativen Charakter der Leichen-
verbrennung illusorisch zu machen. Dieser An-
trag wurde indes mit 157 gegen 167 Stimmen
abgelehnt. Ein zweiter Antrag des Zentrums
wollte, daß die Genehmigung zur Errichtung eines
Krematoriums nur dann erteilt werde, wenn die
zuständigen Körperschaften den Beschluß mit Drei-
viertelmehrheit gefaßt hätten. Statt der Drei-
viertelmehrheit wurde später Zweidrittelmehrheit
gesetzt und der Antrag in dieser Fassung mit 169
gegen 143 Stimmen angenommen. Außerdem
fand ein Antrag der Konservativen Annahme, wo-
nach die Gebühren für die Feuerbestattung so zu
bemessen sein sollen, „doß sie die Kosten der Ein-
richtung einschließlich Verzinsung und Tilgung,
der Erhaltung und Verwaltung der Anlage decken“.
Der Gesetzentwurf im ganzen wurde am 20. Mai
mit 157 gegen 155 Stimmen angenommen. Das
Herrenhaus beriet am 20. Juni über die Vorlage
und nahm sie in der Fassung des Abgeordneten-
hauses unter Ablehnung aller Abänderungsanträge
mit 90 gegen 84 Stimmen an.
Die Debatte in beiden Häusern des Landtags
drehte sich in der Hauptsache um die religiöse
Seite der Leichenbestattung. Religiöse Gesichts-
punkte waren für die ablehnende Haltung des
Zentrums, der Polen und des größeren Teils der
Konservativen gegenüber der Regierungsvorlage
entscheidend. Die Freunde der Vorlage suchten
demgegenüber nachzuweisen, daß ein religiöses
Interesse nicht in Frage komme oder nicht aus-
schlaggebend sein dürfe. Entscheidend für die Ge-
samtheit der Zustimmenden war der Grundsatz,
daß die Toleranz gebiete, jeden die Bestattungs-
art wählen zu lassen, die er für die beste halte.
In welchem Sinn das Zentrum und die gleich-
gesinnten Parteien den Gegensatz zwischen Leichen-
verbrennung und christlicher Religion verstanden,
geht aus den Worten des Abgeordneten Müller
(Koblenz) hervor:
Begräbniswesen.
„Wir find Gegner des Entwurfs erstens, weil
das natürliche Gefühl und die Pietät gegen unsere
Verstorbenen der gewaltsamen Zerstörung des
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die Leichenverbrennung mit einer durch ihr Alter
ehrwürdigen und durch ihren engen Zusammen-
hang mit der christlichen Lehre geheiligten christ-
lichen Sitte in Widerspruch steht, und weil
durch ihre Einführung die Empfindungen des gläu-
bigen christlichen Volks schwer verletzt werden.
Drittens sind wir Gegner der Vorlage, weil diese
Verletzung der religiösen Gefühle noch durch den
Umstand gesteigert wurde, daß die ganze Bewegung
für die Leichenverbrennung von Anfang an eine
dem Christentum feindliche Tendenz gehabt hat,
und heute noch in den Anhängern der Loge, des
Freidenkertums und der Sozialdemokratie ihre
eifrigsten Förderer findet“ (Stenographischer Be-
richt Sp 6514).
Im Herrenhaus hob den gleichen Gegensatz
unter anderem Kardinal Fischer (Köln) hervor:
„Berührt die Vorlage auch kein Dogma, so greift
sie doch tief ein in die christliche Sitte, die Jahr-
hunderte alt ist, und zwar im Namen des christ-
lichen Staats — das dürfen wir nicht vergessen —,
greift ein in eine christliche Sitte, die so alt ist, wie
die christliche Kirche, die unserem Volk teuer und
tief eingewurzelt ist im Volksleben hier in unserem
deutschen Vaterland, und deren Verletzung daher
geeignet ist, die Volksseele bis in ihre tiefsten Tiefen
zu erregen und christliches Denken und Fühlen zu
schädigen und zu verletzen“ (Stenographischer Be-
richt Sp. 330).
Das entscheidende Motiv der Anhänger der Vor-
lage bezeichnete der nationalliberale Abgeordnete
Krause: „Ich komme nauf den springenden
Punkt: es ist eine Forderung der Toleranz, die
durch dieses Gesetz verwirklicht werden soll“ (Steno-
graphischer Bericht Sp. 6509).
Und der Minister des Innern v. Dallwitz sagte:
„Die Vorlage geht von dem Gesichtspunkt aus, daß
unter vollster Wahrung und Aufrechterhaltung der
ehrwürdigen altchristlichen Sitte der Erdbestattung
lediglich Andersdenkenden, also solchen Personen,
die entweder keiner der christlichen Religionsgesell-
schaften angehören oder die aus sonstigen Gründen
für ihre Person an dieser alten christlichen Sitte
nicht festhalten wollen, die Möglichkeit gegeben
werden soll, für ihre Person eine andere Art der
Bestattung zu wählen“ (Stenographischer Bericht
Sp. 6526).
Gegenüber dem Toleranzargument berief sich der
Abgeordnete Müller zunächst auf die Bemerkung
eines freisinnigen Redners, daß es sich hier nur um
eine Zweckmäßigkeitsfrage handle. Zweckmäßig-
keitsfragen aber entscheide die Mehrheit. Dann
fuhr er fort: „Wenn aber das, was von den Ver-
tretern und Freunden der Vorlage in der Beziehung
gesagt worden ist, nicht richtig ist, wenn es doch
wahr ist, daß man nur einen Verstoß gegen das
Christentum beabsichtigt, wenn es doch richtig ist,
daß man hier gerade gegen die christliche Sitte als
solche angehen will, dann wird es doch wohl in
einem christlichen Staat noch gestattet sein, ohne
sich dem Vorwurf der Intoleranz ausgesetzt zu
sehen, diese christliche Sitte in Schutz zu nehmen
und für die christliche Sitte und Ordnung und
deren Erhaltung einzutreten. . Wenn es wahr
ist . . ., daß die Sitte des Verbrennens den Juden
und Christen ein unerträglicher Greuel ist, wenn
es wahr ist — und es ist wahr —, daß dadurch die
Gefühle des gläubigen christlichen Volkes schwer
menschlichen Leichnams widerstreben, zweitens, weil! verletzt werden, daß dadurch dem gläubigen christ-