Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

1403 
lichen Volk in seiner großen Mehrheit Argernis 
gegeben wird, dann, meine ich, ist es eine Intole- 
ranz von denjenigen, für die die Leichenverbren- 
nung ja doch nur eine Geschmackssache ist, oder die 
die Leichenverbrennung als Mittel benutzen, um 
gegen das Christentum anzugehen, ein solches 
Argernis zu geben, dann wäre es ihre Sache, Rück- 
sicht zu nehmen auf die Gefühle der großen Mehr- 
heit des preußischen Volkes, der großen Mehrheit 
des christlichen Volkes in einem heute noch wenig- 
stens dem Namen nach christlichen Staat“ (Steno= 
graphischer Bericht Sp. 6522/6523). 
Für die Parteien, die die Vorlage ablehnten, 
siel außer den religiösen Bedenken auch die Er- 
wägung in die Wagschale, daß die Vorlage keine 
genügende Gewähr dafür biete, daß die Ermitt- 
lung solcher strafbaren Handlungen, die nur durch 
ein Zuruckgehen auf die menschlichen Überreste 
ersfolgen kann, auch bei Verbrennung der Leichen 
noch möglich sei. Auch die Freunde der Vorlage 
konnten ebenso wie die Regierung keine vollstän- 
dige Beseiligung der bisher in dieser Beziehung 
gehegten Bedenken behaupten und dartun, sondern 
nur eine wesentliche Abschwächung und Milderung 
derselben „nach dem heutigen Stand der medizini- 
schen und chemischen Wissenschaft“. Der freikon- 
servative Redner sagte z. B.: „Ein gewisses Ab- 
tragen, eine gewisse Beeinträchtigung der Mög- 
lichkeit der Wahrheitsermittlung, soweit sie an 
menschlichen Resten hängt, müssen wir unbedingt 
zugestehen“ (Stenographischer Bericht Sp. 4753). 
Die religiösen Rücksichten und die kriminalisti- 
schen Bedenken sprechen gegen die Zulassung der 
Leichenverbrennung. Was das gegen die ersteren 
ins Feld geführte Toleranzargument anlangt, so 
wurzelt dasselbe in der Auffossung, daß es sich bei 
der Frage nach der Bestattungsart nur um ver- 
schiedene Ansichten handle, denen dieselbe gleich- 
mäßige Duldung gebühre, wie etwa zwei ent- 
gegengesetzten philosophischen oder religiösen Mei- 
nungen. Aber es handelt sich nicht um die 
Duldung bloßer Theorien oder der verschiedenen 
Beantwortung indifferenter Zweckmäßigkeitsfragen, 
sondern darum, daß der Staat eine in das Volks- 
leben tief eingreifende, der christlichen Sitte feind- 
liche Umwälzung sanktioniert. Der in dieser 
Richlung aggressive Charakter der Leichenverbren- 
nung ist nicht abhängig von den einzelnen Per- 
sonen, die Anhänger der Leichenverbrennung sind. 
Sie brauchen durchaus nicht alle antichristlich ge- 
sinnt zu sein; manche können die Frage als eine 
Zweckmaßigkeitsfrage ansehen. Ausschlaggebend 
ist die historische Beziehung der Leichenverbren- 
nung zum Heidentum, die für die Feuerbestat- 
tungsbewegung charakteristische antichristliche Ten- 
denz und die ihr von manchen Führern beigelegte, 
dem Christentum feindliche symbolische Bedeutung. 
Genügen diese Erwägungen schon, um die ge- 
setzliche Zulassung auch der fakultativen Leichen- 
verbrennung ohne Verstoß gegen die Toleranz 
vom christlichen Standpunkt aus abzulehnen, so 
noch mehr, wenn man die fakultative Zulassung 
Bulgarien. 
  
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unter dem Gesichtswinkel des ersten Schrittes auf 
einer zur obligatorischen Leichenverbrennung führen- 
den Bahn betrachtet. Die Regierung wollte einer 
dahin zielenden Entwicklung zweifellos keinen 
Vorschub leisten. Auch die Abgeordneten, die die 
Vorlage verteidigten, lehnten eine weiter gehende 
Deutung ihres zustimmenden Votums ab. Indes 
ist die Befürchtung nicht von der Hand zu weisen, 
daß gewisse in der Sache selbst liegende, vorwärts 
treibende Kräfte — es sei an die volkswirtschaft- 
liche Seite der Leichenbestattung erinnert — in 
Zukunft einen Einfluß ausüben, der zu weiteren 
Schritten auf der einmal betretenen Bahn führen 
kann. 
Infolge der Einführung der Leichenverbrennung 
in Preußen war auch für die katholische Kirche 
dieses Landes die Notwendigkeit gegeben, ihre 
Stellung zu dem neuen Rechtszustand näher zu 
präzisieren. Die Fragen, die derselbe aufwarf, 
waren schon durch frühere Dekrete der Kongrega- 
tion der Inquisition vom 19. Mai 1886, 15. Dez. 
1886 und 27. Juli 1892 entschieden worden. 
Diese Dekrete dienten den einschlägigen Beschlüssen 
der preußischen Bischofskonferenz vom 22. Aug. 
1911, die in den kirchlichen Amtsblättern publi- 
ziert wurden, als Grundlage. Danach ist den 
Katholiken alles verboten, was eine Billigung der 
Leichenverbrennung enthält. Also dürfen sie nicht 
Feuerbestattungsvereinen angehören, ferner nicht 
anordnen oder billigen oder sonst formell dazu 
mitwirken, daß die eigne Leiche oder die eines 
andern verbrennt wird (cooperatio formalis). 
Eine entferntere cooperatio formalis kann dem- 
nach z. B. auch vorliegen, wenn katholische Stadt- 
verordnete dem Antrag, ein Krematorium zu er- 
bauen, zustimmen. Eine entferntere oder nähere 
Mitwirkung zur Verbrennung durch Befehl oder 
Nat oder Bedienung der Leichenverbrennung ist 
Katholiken zur Vermeidung eines schweren Nach- 
leils für sich nur unter der Voraussetzung ge- 
stattet, daß a) die Verbrennung keine demon- 
strative Kundgebung der Freimaurer ist; b) nichts 
einschließt, was an sich unmittelbar und lediglich 
einen Widerspruch gegen die katholische Lehre oder 
eine Anerkennung der Freimaurerei an den Tag 
legt; c) nicht seststeht, daß katholische Angestellte 
oder Arbeiter zwecks Verachtung der katholischen 
Religion zu dem Werk verpflichtet oder heran- 
gezogen werden (cooperatio materialis). Be- 
amte, die bei Ausführung des Kommunaldbeschlus- 
ses mitwirken müssen, ohne die Tendenz zu 
billigen, Notare, die die Unterschrift eines Dispo- 
nenten nur beglaubigen, ohne die Handlung an- 
zuraten oder zu billigen, leisten demnach coopera- 
tio materialis. LJul. Bachem.) 
Bulgarien. In der innern Politik hatte 
Fürst Ferdinand im Jan. 1908 nach langem 
Zögern sich entschlossen, ein demokratisches Ka- 
binett mit dem Minister Malinow als Vorsitzen- 
dem zu bilden, das mit den Traditionen der vor- 
ausgegangenen stambulowistischen Kabinette unter
	        
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