Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Petkow und Gudew brechen und eine fortschritt- 
liche Richtung einschlagen sollte; neben einer 
Heeresreform und der Sorge um die bulgarischen 
Christen in Mazedonien wurden namentlich wirt- 
schaftliche Gesichtspunkte, wie die Vereinigung der 
bulgarischen Eisenbahnen mit den türkischen, die 
Einführung einer progressiven Einkommensteuer 
u. a., betont. Bei den Wahlen zur Sobranje er- 
rang die demokratische Regierungspartei, die bis- 
her die schwächste im Parlament gewesen war, mit 
175 Vertretern (von 190) einen vollen Erfolg. 
Doch traten die Aufgaben der innern Politik bald 
zurück gegenüber der aktiven äußern Politik, die 
der Fürst einschlug. Unter dem absolutistischen 
Regime Abdul Hamids hatte sich die Abhängig- 
keit Bulgariens von der Türkei fast nur auf die 
Zahlung eines jährlichen Tributs für Ostrumelien 
beschränkt, und Bulgarien war nach außen hin wie 
ein unabhängiger Staat aufgetreten. Als aber 
nach dem Sturz des Absolutismus die neue kon- 
stitutionelle Türkei bzw. das jungtürkische Komitee 
das Abhängigkeitsverhältnis Bulgariens mehr 
betonen wollte und z. B. den bulgarischen Ge- 
sandten in Konstantinopel als den Vertreter einer 
Vassallenmacht bei den Einladungen der Diplo- 
maten geflissentlich überging, glaubte Ferdinand, 
wohl im Einverständnis mit Wien, wo er kurz 
vorher mit seiner zweiten Gemahlin, Eleonore 
von Reuß (seit 1. März 1908), einen freundlichen 
Empfang gefunden hatte, die Zeit gekommen, sein 
Land von der Türkei selbständig zu machen. Am 
24. Sept. ließ die bulgarische Regierung die durch 
das Land führenden Strecken der Orientbahn 
mit Beschlag belegen und suchte diesen Schritt 
gegenuber den Protesten der Türkei und des Ver- 
treters der Bahn in Sofia durch eine Denkschrift 
an die Großmächte zu rechtfertigen. Am 5. Okt. 
proklamierte der Fürst, während am gleichen Tag 
Osterreich-Ungarn zur förmlichen Annexion von 
Bosnien und der Hercegovina schritt (s. d. Art. 
Türkei), in Tirnowo die Unabhängigkeit 
von Bulgarien und Ostrumelien und nahm den 
Titel eines Königs der Bulgaren an, am 7. Okt. 
sistierte die Regierung die Zahlung der fälligen, 
an die Dette publique in Konstantinopel zu ent- 
richtenden Septemberrate des Tributs für Ost- 
rumelien; am 28. Okt. verkündete die Thronrede, 
daß Bulgarien selbst den Betrieb der Orient- 
bahn übernehmen, aber die Verwaltung hin- 
sichtlich ihrer Rechtsansprüche entschädigen wolle. 
Die Pforte erhob zwar bei den Mächten, die 
den Berliner Vertrag unterzeichnet hatten, Protest, 
boykottierte die bulgarischen Waren und mobili- 
sierte die an der bulgarischen Grenze stationierten 
Truppen; da aber an eine gewaltsame Wieder- 
herstellung der türkischen Suzeränität nicht zu 
denken war, wurden bald Verhandlungen wegen 
einer finanziellen Entschädigung der Türkei für 
den Tribut, für die von Bulgarien weggenom- 
menen Strecken der Orientbahn und für einige 
andere Forderungen der Pforte angeknüpft. Doch 
Bulgarien. 
  
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konnten sich beide Staaten über die Höhe der 
Entschädigung nicht einigen, und die Pforte ver- 
wies Bulgarien wegen der Anerkennung als König- 
reich an die Großmächte. Statt eines erwarteten 
gemeinsamen Schrittes der Mächte erfolgte im 
März 1909 von seiten Rußlands ein Vermitt- 
lungsvorschlag, auf Grund dessen am 19. bzw. 
20. April 1909 eine Einigung zwischen Ruß- 
land und der Türkei einerseits und Bulgarien 
und der Türkei anderseits erzielt wurde. Um der 
Pforte 100 Mill. 31 zukommen zu lassen, während 
Bulgarien nur 65.5 zahlen wollte, verzichtete 
Rußland, dem die Türkei für den Krieg von 1878 
eine noch unbeglichene Kriegsentschädigung in 
74 Jahresraten zu zahlen verpflichtet war, auf 
40 Jahreszahlungen der Kriegsentschädigung zu 
Gunsten der Türkei und wurde dafür Gläubiger 
Bulgariens für einen Betrag von 65,5 Mill. M, 
wodurch es sich Bulgarien von neuem verpflichtete. 
In dem Betrag von 100 Mill. M waren ent- 
halten: 32 Mill. für den ostrumelischen Tribut, 
32 Mill. für die 310 km der in Bulgarien ge- 
legenen Orientbahnen, 34,4 Mill. für den Wert 
der Staatsdomänen in Bulgarien und Ostrume- 
lien und 1.6 Mill. für eine kleine Eisenbahnstrecke. 
Die Türkei verzichtete dafür auf den ostrumelischen 
Tribut, auf den auf Bulgarien fallenden Anteil 
an der türkischen Staatsschuld und erkannte die 
neue Ordnung der Dinge an. Die übrigen For- 
derungen der Türkei bezüglich der Wakufgüter 
und der religiösen Gemeinden der Mohamme- 
daner in Bulgarien wurden durch ein späteres 
besonderes Abkommen geregelt, durch das den 
Mohammedanern Freiheit und äußere Ausübung 
des Kultus und die gleichen Rechte wie den übrigen 
Bulgaren gesichert wurden. Am 20. April wurde 
die Selbständigkeit Bulgariens durch Rußland, 
Frankreich und Großbritannien, am 23. durch 
das Deutsche Reich und Italien, am 27. durch 
Osterreich-Ungarn anerkannt. 
Die Proklamation zum unabhängigen König- 
reich machte eine Verfassungsänderung notwendig. 
Der von der Regierung vorgelegte Entwurf wurde 
im Febr. 1911 von der Sobranje angenommen; 
da aber eine Verfassungsänderung einer „großen“ 
Sobranje, die aus doppelt soviel Mitgliedern als 
eine gewöhnliche besteht, vorgelegt werden muß, 
wurden die Wahlen zu einer solchen ausgeschrieben. 
Bis diese Wahlen stattfanden, trat ein Kabinetts- 
wechsel ein. Obwohl das Ministerium Malinow 
in seiner äußern Politik so glänzende Erfolge er- 
zielt hatte, waren doch Meinungsverschiedenheiten 
zwischen ihm und dem König entstanden, die schon 
im Sept. 1910 zu einer partiellen Ministerkrisis 
und im März 1911 zur Demissionierung des 
Kabinetts Malinow führten; an seine Stelle trat 
ein Koalitionsministerium der Nationalisten und 
Zankowisten unter dem Präsidium Geschows; bei 
den Wahlen zur großen Sobranje im Juni er- 
rang die Regierung eine starke Majorität (355 
von 426 Sitzen). Am 21. Juli wurde die neue
	        
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