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Balkanländer. I: Das gricchische Unterrichtswesen
(1909); Ad. Struck, G. I: Athen u. Atti 39.
in
Großbritannien. König Eduard VII. 1
starb am 6. Mai 1910, den Thron bestieg sein
Sohn als Georg V. (geb. 3. Juni 1865, ver-
mählt 1893 mit Mary Fürstin von Teck). —
Im Krönungseid trat an Stelle der alten
aus dem Jahr 1689 stammenden, die Katholiken
schwer verletzenden Fassung eine von beiden Par-
lamentshäusern im Juli bzw. Aug. 1910 ange-
nommene (im Unterhaus mit 193 Stimmen Mehr-
heit) und vom König gebilligte Formel, wonach
sich der König als treuer Protestant bekennt und
verspricht, gemäß der wahren Absicht der Bestim-
mungen zur Sicherung der protestantischen Thron-
solge diese Bestimmungen nach besten Kräften
aufrecht zu halten und zu handhaben (noch immer
bestehen bleibt die für Katholiken kränkende Rechts-
bestimmung, daß kein Katholik Träger der Krone
sowie der beiden Amter eines Lordkanzlers von
England und Vizekönigs von Irland sein darf).
Die wichtigste innerpolitische Frage der letzten
Jahre war der Kampf zwischen Ober= und
Unterhaus. Seitdem die Liberalen bei den
Wahlen zum Unterhaus Anfang 1906 eine große
Mehrheit gewannen (376 Liberale, 134 Konser-
vative, 23 Unionisten, 83 Nationalisten, 54 Ar-
beitervertreter), während das Oberhaus zu etwa
fünf Sechstel konservativ war, wurde der Kampf
zwischen den beiden Hauptparteien immer mehr
ein Kampf zwischen den beiden Häusern des Par-
laments. Die Gesetzentwürfe, welche die liberale
Partei zum Schutz der unteren Klassen, zur För-
derung der lange vernachlässigten sozialen Gesetz-
gebung und zur Lösung der irischen Frage ein-
brachte (z. B. Unfallversicherung und Pachtgüter-
gesetz 1906. Crown Land Act und Kleingüter-
gesetz 1907, Schutzgesetz für Kinder und Alters-
pensionsgesetz 1908) erfuhren durch das Oberhaus
erhebliche Einschränkungen, und die liberale Partei
mußte manche Zugeständnisse an die Peers be-
willigen, um das Zustandekommen der Gesetze zu
ermöglichen; andere Vorlagen, wie die irische
Großbritannien.
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nur noch ein zweimaliges suspensives Veto-
recht gewähren wollte. Eine günstige Gelegen-
heit zum endgültigen Austrag des Kampfes er-
blickte die Regierung 1909 in der Vorlage des
Budgets, in der Verbindung der Finanzfrage mit
der konstitutionellen Frage; da es als ein un-
bestrittenes Gewohnheitsrecht galt, daß das Ober=
haus eine Finanzbill der Regierung nicht im
einzelnen abändern und von seinem formalen
Recht, das Budget anzunehmen oder abzulehnen,
nur in ersterem Sinn Gebrauch machen dürfe, so
forderte das von Lloyd-George, dem Führer des
radikalen Flügels des Ministeriums, eingebrachte
Budget 1909/10 zur Deckung der beträchtlich
angewachsenen Kosten für die Wehrkraft des Lan-
des und für die neue soziale Gesetzgebung neue
Steuern auf Tabak und Automobile, eine bedeu-
tende Erhöhung der Abgaben für Herstellung und
Verkauf von geistigen Getränken (wodurch in ge-
wissem Sinn die vom Oberhaus früher verworfene
Schankkonzessionsbill erneuert wurde), Erhöhung
der Erbschafts= und Einkommensteuer, die Ein-
führung einer Steuer auf den unverdienten Wert-
zuwachs für Grundbesitz, sowie die Neureglung
der Grundsteuer, besonders für unangebautes und
unverwertetes Land. Dieses Budget, das haupt-
sächlich den im Oberhaus die Mehrheit besitzenden
Kreisen der Bodenmagnaten neue schwere Lasten
auferlegte, fand schon im Unterhaus auf konser-
vativer Seite wegen seiner „sozialistischen“ Grund-
tendenz erbitterten Widerstand, wurde aber nach
58 Sitzungstagen am 24. Nov. 1909 in dritter
Lesung angenommen. Im Oberhaus brachte Lord
Lansdowne den Antrag ein, das Haus wolle er-
klären, daß es nicht berechtigt sei, diese Finanzbill
anzunehmen, bevor sie nicht dem Urteil des Lan-
des unterworfen worden sei. Obwohl unter den
Konservativen selbst eine gemäßigte Partei dafür
eintrat, die Bill anzunehmen, wurde doch der An-
trag Lansdownes am 30. Nov. mit einer Mehr-
heit von 350 gegen 75 Stimmen angenommen:
das Oberhaus verwarf damit, entgegen allem bis-
herigen Herkommen, eine Finanzbill. Das Unter-
haus erklärte die Verwerfung des Budgets im
Landbill Birrells, die Plural Voting Bill, die Dezember mit 349 gegen 134 Stimmen als einen
das Recht, in mehreren Wahlkreisen das Stimm= Bruch der Verfassung und eine Usurpation des
recht auszuüben, abschaffen wollte, das Glemenkar. Rechs der Gemeinen. Die unmittelbare Folge
schulgesetz Birrells für England und Wales, der des Oberhausbeschlusses war die Vertagung und
Antrag auf Entstaatlichung der Staatskirche in Auflösung des Unterhauses (10. Jan. 1910). Da
Wales, die Schankkonzessionsbill usw., wurden lein gesetzmäßiges Budget zustande gekommen
vom Oberhaus entweder glatt abgelehnt oder so war, konnten verschiedene Steuern nicht mehr er-
verändert, daß das Unterhaus seinerseits die so hoben werden, die Finanzen des Staats gerieten
„amendierten“ Vorlagen verwarf. So wurde das in schwere Unordnung und zur Fortführung der
Verhältnis zwischen den beiden Häusern immer Staatsverwaltung mußte eine schwebende Schuld
gespannter. Die Konservativen schienen systema- ausgenommen werden. Die Wahlen vom Jan.
tisch ihr Ubergewicht im Oberhaus benützen zu 1910 brachten den Konservativen nicht den er-
wollen, um die liberale Regierung zu keinem warteien Erfolg, obwohl sie 106 Sitze gewannen;
größeren gesetzgeberischen Ersolg kommen zu lassen; 6 es wurden gewählt 274 Liberale, 273 Unionisten,
die liberale Regierung ihrerseits hatte schon 1907 82 irische Nationalisten und 41 Mitglieder der
unter Campbell-Bannerman im Unterhaus eine Arbeiterpartei. Das Kabinett hatte also in dem
Resolution annehmen lassen, die dem Oberhaus am 15. Febr. zusammentretenden Parlament nicht