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Hessen — Hilfskassen.
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in Räumen, in denen Hausarbeit ausgegeben oder Darmstädter Technischen Hochschule, ferner durch
abgeliefert wird, den Hausarbeitern durch offene
Auslage von Lohnverzeichnissen oder Aushängen
von Lohntafeln die Möglichkeit gegeben wird, sich
über die Löhne für die einzelnen Arbeiten zu unter-
richten. Den Arbeitern müssen ferner vom Ar-
beitgeber Lohnbücher oder Arbeitszettel ausgehän-
digt werden, welche Art und Umfang der Arbeit
sowie die dafür festgesetzten Löhne enthalten. —
Lohnämter, die für einzelne Hausindustrien Lohn-
festsetzungen mit rechtsverbindlicher Kraft treffen
könnten (nach dem Vorbilde Australiens und Eng-
lands), sind infolge des Widerstands der Regie-
rung leider in das Gesetz nicht ausgenommen.
Statt dessen kann der Bundesrat für bestimmte
hausindustrielle Gewerbezweige Fachausschüsse be-
schließen, die paritätisch aus Vertretern der Ge-
werbetreibenden und Hausarbeiter zusammengesetzt
sind. Ihnen fällt als wichtigste Aufgabe zu, auf
Ersuchen der Staats= und Gemeindebehörden die
Höhe des von den Hausarbeitern tatsächlich er-
zielten Arbeitsverdienstes zu ermitteln, dessen An-
gemessenheit zu begutachten, Vorschläge für die
Vereinbarung angemessener Entgelte zu machen,
und auch sonst den Abschluß von Lohnabkommen
oder Tarifverträgen zu fördern. Die Fachaus-
schüsse sind als ein Fortschritt zu begrüßen, wenn
sie als Etappe zu einer durchgreifenden gesetzlichen
Lohnregulierung in der Hausindustrie betrachtet
werden. Als dauernde Institution zur Gesundung
der heutigen Lohnverhältnisse in der Hausindustrie
werden sie sich höchst wahrscheinnich als nicht ge-
nügend erweisen. Koch S. J.“
Hessen. Durch die Gesetze vom 3Jun11911
erhielt das Großherzogtum ein neues Wahlrecht
zum Landtag. Die Zweite Kammer besteht aus
58 Mitgliedern (bisher 50), davon sind 15 (bis-
her 10) Abgeordnete der Städte (Darmstadt und
Mainz je 3, Gießen, Offenbach, Worms je 2,
Friedberg, Alsfeld, Bingen je 1), die ländlichen
Wahlkreise, für die eine neue Wahlkreiseinteilung
geschaffen wurde, stellen 43 (bisher 40) Abgeord-
nete. Die Wahlen sind direkt und geheim. Für
das aktive Wahlrecht wird verlangt männliches
Geschlecht, vollendetes 25. Lebensjahr, hessische
Staatsangehörigkeit seit einem Jahr, dreijähriges
Wohnen in Hessen, Leistung einer direkten Staats-
oder Gemeindesteuer; doch haben auch die sog.
Haussöhne das aktive Wahlrecht, wenn sie auch
nicht zur besondern Steuer herangezogen sind.
Jeder Wähler hat vom 50. Lebensjahr ab zwei
Stimmen (Pluralwahlrecht; wurde vom Bauern-
bund durchgesetzt, soll ein Ubergewicht bilden der
eingesessenen Bevölkerung gegen die fluktuierende
lsozialdemokratische) Industriebevölkerung). Das
passive Wahlrecht ist insofern beschränkt, als die
Beamten der Verwaltung, der Justiz, der Fi-
nanzen und des Forstamts nicht in den zu ihrem
Dienstbezirk gehörigen Wahlkreis gewählt werden
können. Die Zahl der Mitglieder der Ersten
Kammer wird vermehrt durch einen Vertreter der
je einen auf Vorschlag der betreffenden Berufs-
körperschaft vom Großherzog berufenen Vertreter
des Handels, der Industrie, der Landwirtschaft
und des Handwerks.
Die Zweite Kammer setzt sich nach den Wahlen
im Nov. 1911 zusammen (nur die Hälfte der (50]
alten Kammermitglieder schied verfassungsgemäß
aus) aus 16 Nationalliberalen, 16 Bauernbünd-
lern, 9 Zentrumsmitgliedern, 9 Fortschrinlichen
und 8 Sozialdemokraten. Die Fortschrittliche
Volkspartei gewann 4 Sitze, die Sozialdemo-
kratie 3, der Bauernbund 2, das Zentrum 1 Sitz,
die Nationalliberalen verloren 2 Sitze.
Durch eine Anderung der Verfassung (Art. 67
und 75) wurden die Beziehungen der beiden
Kammern in budgetärer und legislatorischer Hin-
sicht neu gestaltet. Bisher konnte die Erste Kam-
mer die das Finanzgesetz betreffenden Beschlüsse
der Zweiten Kammer nur im ganzen annehmen
oder verwerfen, eventuell fand gemeinsame Sitzung
mit absoluter Stimmenmehrheit statt. Nach dem
neuen Recht ist (als Ausgleich für die Zustim-
mung der Ersten Kammer zur geheimen Wahl
für die Mitglieder der Zweiten Kammer) die Erste
Kammer berechtigt, über die einzelnen Teile des
Hauptvoranschlags und des Finanzgesetzes auch
gesondert zu beschließen. Tritt die Erste Kammer
der Zweiten Kammer nicht bei, so geht die Sache
zur nochmaligen Beratung und Beschlußfassung
über die betreffenden Punkte an die Zweite Kam-
mer. Beharrt diese bei ihren abweichenden Be-
schlüssen, so gelangen diese letztmals an die Erste
Kammer. Tritt diese wiederum nicht bei, so sind,
wenn die Zweite Kammer nicht nachträglich den
Beschlüssen der Ersten Kammer zustimmt, die noch
nicht übereinstimmenden Punkte nach den Be-
schlüssen der Zweiten Kammer in das Finanzgesetz
einzustellen, das nun zur Annahme oder Ableh-
nung im ganzen an die Erste Kammer geht. Lehnt
diese die Annahme ab, so findet eine Beratung
und Abstimmung mit absoluter Mehrheit in ver-
einigter Sitzung der beiden Kammern statt (beie
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des
Präsidenten der Zweiten Kammer). — Wird ein
von einer Kammer abgelehnter Gesetzesvorschlag
auf dem nächsten Landtag von der Regierung
wieder vorgelegt und abermals von einer Kam-
mer angenommen, von der andern abgelehnt, so
kann auf Verlangen der Regierung in einer
gemeinsamen Sitzung beider Kammern über
den Gesetzesvorschlag verhandelt und abgestimmt
werden.
Eine Umgestaltung erfuhr ferner die Städte-
ordnung, die Landgemeindeordnung, die Kreis-
und Provinzialordnung; neu geregelt wurde auch
die Gemeindebesteuerung (verschiedene Geiete, vom
8. Juli 1911).
Hilfskassen. Die im Art. lenen
(Bd II, Sp. 1235 ff) erwähnten Mißstände in
der Verwaltung der eingeschriebenen Hilfskassen