Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Wegnahme drohte. In dem sofort ausbrechenden 
Kampf fiel die Stadt Tripolis und die übrigen 
Küstenorte ohne besondere Schwierigkeiten in die 
Hände der Italiener, die Eroberung des übrigen 
Gebiets aber stieß auf einen nicht geahnten 
türkisch-arabischen Widerstand, so daß die weitere 
Festsetzung im Land ein äußerst schwieriges, mit 
großen Opfern von Gut und Blut verbundenes 
Unternehmen wird. Durch italienisches Dekret 
vom 5. Nov. 1911 wurde das gesamte bisher 
türkische Gebiet unter „die volle und ganze Ober- 
hoheit des Königreichs Italien“ gestellt, der tat- 
sächliche Besitz erstreckt sich jedoch zurzeit (Januar 
1912) nur auf einen schmalen Küstenstreifen. Die 
Türkei wäre zu einem Friedensschluß längst bereit, 
wenn ihr nur eine rein formelle Oberhoheit zu- 
gestanden würde. — England und Frankreich 
haben sich übrigens für ihre stillschweigende Zu- 
stimmung zur Annektion schon zu entschädigen 
gewußt, England durch Besetzung der tripoli- 
tanischen Bucht von Solum, die mit ihrem Gebiet 
zu Agypten geschlagen wurde, Frankreich durch 
Besetzung der im Süden von Tripolis (in der 
Sahara) gelegenen Oase Dschanet, die schon 1905 
bis 1906 von Frankreich besetzt war, aber damals 
wieder aufgegeben werden mußte. (Red.] 
Klerus. Am 9. Nov. 1911 hat Pius X. 
das Motuproprio OQuantavis diligentia erlassen 
de trahentibus Clericos ad tribunalia indicum 
laicorum (Acta Apostolicae Sedis III 555l). 
Die hierdurch geschaffene Rechtelage macht eine 
Ergänzung der Ausführungen über das privi- 
legium fori des Art. Klerus (Bd III, Sp. 291 
bis 293) erforderlich. 
I. Nach gemeinem Kirchenrecht besteht auch 
heute noch das privilegium fori in vollem Um- 
fang, nicht nur hinsichtlich der rein geistlichen 
Standes= und Amtsverhältnisse, sondern auch 
für die bürgerlichen Zivil= und Kriminalsachen 
der Kleriker (c. 4 8 10 17 X. 2, 1;c. 1 29 12 
13 X. 2, 2. Trid. Sess. XXIII de ref. c. 6; 
Sess. XXV de ref⅝f. c. 20); diejenigen, welche 
das privilegium fori nicht achten, verfallen den 
kanonischen Strafen. 
1. In der Bulle In Coena Domini, d. h. „der 
unter Pius V. zum kirchlichen Strafgesetz er- 
hobenen Sammlung von Exkommunikalions= 
sentenzen, die von den Päpsten bis Klemens XIV. 
am Gründonnerstag .. feierlich verkündet wor- 
den sind“ (vgl. E. Göller, Die apostol. Pöniten= 
tiarie I 242 ff; 11 190 ff, wo die Geschichte dieser 
Bulle vom 12. bis 16. Jahrh. ausführlich dar- 
gelegt ist), finden sich in ihrer späteren Fassung 
zwei Sentenzen, nach welchen ipso facto der 
Exkommunikation verfallen Obrigkeiten, Richter 
und sonstige Gerichtsbeamten, die von Amts 
wegen oder auf Antrag der Parteien direkt oder 
indirekt kirchliche Personen vor das weltliche Ge- 
richt ziehen oder ziehen lassen, sei es in Zivil- 
sachen, praeter iuris canonici dispositionem, 
Klerus. 
  
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et expressa huius S. Apostolicae Sedis li- 
centia (§8§ 15 19). 
2. Durch die Konstitution Apostolicae Sedis 
vom 12. Okt. 1869, welche unter Berücksichtigung 
der modernen Verhältnisse die kirchlichen Vergehen 
neu zusammenstellt, auf die eine censura latae 
Sententiae gesetzt ist, wurden auch die bisherigen 
Strafbestimmungen über die Verletzung des privi- 
legium fori abgeändert. Während bisher alle, 
die als Partei oder irgendwie von Amts wegen, 
also vor allem die Richter und Staatsanwälte, 
einschließlich der gesetzgebenden Faktoren, Kleriker 
vor Gericht zögen, der Exkommunikation ver- 
fielen, wurden mit Rücksicht darauf, daß gerade 
die Richter und Staatsanwälte unter dem Zwang 
des Gesetzes stehen, anderseits als Katholiken in 
Gewissenskonflikte geraten mußten, jene Bestim- 
mungen gemildert: fürderhin sollten der Excom-- 
municatio latae sententiae nur verfallen Co- 
gentes sive directe sive indirecte iudices 
laicos ad trahendum ad suum tribunal per- 
sohas ecclesiasticas praeter Canonicas dispo- 
sitiones; item edentes leges vel decreta con- 
tra libertates aut iura Ecclesiae (I 7). Aus 
dem Wortlaut ergibt sich ohne weiteres, daß unter 
Cogentes die Laienrichter selbst nicht zu ver- 
stehen sind, weil diese nur auf Grund des Gesetzes 
kirchliche Personen vor das weltliche Gericht ziehen, 
nicht cogentes, sondern coacti sind, als Richter 
eine Zwil= oder Strafklage anzunehmen, als 
Staatsanwälte Klage zu erheben. Dagegen 
geht anderseils aus dem Wortlaut jedenfalls her- 
vor, daß das Kapitel Cogentes nicht nur Re- 
gierungsorgane trifft, die im einzelnen Fall 
über die Bestimmungen der Gesetze hinaus den 
Laienrichter zwingen, Kleriker vor ihr Forum zu 
ziehen, sondern vor allem und in erster Linie die 
gesetzgebenden Faktoren im weitesten 
Sinn, d. h. diejenigen, welche durch Beantragung, 
Votierung, Zustimmung, Sanktion zum Erlaß 
von das privilegium fori aufhebenden oder ein- 
schränkenden Gesetzen (leges) oder Rechtsverord- 
nungen (decreta) mitwirken, nicht aber diejenigen, 
welche die bereits bestehenden Gesetze und Ver- 
ordnungen nur aufrechterhalten (ogl. Hollweck, 
Die kirchlichen Strafgesetze (1899) 208). Zweifel- 
haft war es dagegen von vornherein, ob unter 
den Cogentes auch die Privatkläger zu ver- 
stehen seien, die durch Anzeige oder Klage den 
Staatsanwalt oder Richter zwingen, gegen Kleriker 
vorzugehen. Die Frage wurde gelöst durch die 
authentische Interpretation, welche 1886 Leo XIII. 
geben ließ. 
3. Die Instruktion der S. Congregatio In- 
quisitionis vom 23. Jan. 1886 (Acta S. Sedis 
XVIII 416) erklärte caput „Cogentes" non af- 
ficere nisi legislatores et alias auctoritates; 
hinsichtlich der Privatkläger aber gab sie folgende 
Anweisung: 
Ceterum in üs locis, in quibus fori privilegio 
sei es in Kriminalsachen, sine speciali, specifica# per Summos Pontilces derogatum non fuit, si im 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Anfl. 
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