Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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wissenschaften“, d. h. Wissenschaften vom Staat: 
A. Allgemeine Staatslehre, die Lehre vom Staat 
als Ganzem in Begriff, Entstehung, Untergang, 
Arten, welche allen andern Staatswissenschaften zu- 
grunde liegt, als eine besondere Grundwissenschaft 
— sodann weiter der Staat in seinen einzelnen 
Seiten und Beziehungen, und zwar: B. in seiner 
unterläglichen Seite, d. h. in seinem Bestand, als tat- 
sächliche oder rechtliche Ordnung betrachtet: l. Staats- 
geschichte, II. staatliche Statistik, III. Staatsrecht, 
IV. Völkerrecht; C. in seiner Entwicklung, seinem 
Leben als „eigentliche Staatswissenschaft“ (also die 
eigentlichen unter den eigentlichen Staatswissen- 
schaften!), V. Politik im eigentlichen Sinn, d. h. 
die Wissenschaft vom Staatsleben (der Staatsent- 
wicklung der Zukunft) im großen und ganzen, 
VI. Verwaltungswissenschaft, d. h. die Lehre von 
der Lösung der Staatsaufgaben im kleinen und 
einzelnen, aus der hinwieder: a) Finanzwirtschaft, 
b) Volkswirtschaftspflege, c) Polizeiwissenschaft, 
d) die Kriegswissenschaften als besondere Diszi- 
plinen hervorgehoben und eigens bearbeitet werden. 
Die Nationalökonomie ist bei allen diesen 
Gliederungsversuchen aus dem Kreis der Staats- 
wissenschaften ausgeschlossen. Die „allgemeinen 
Sätze der Wirtschaftslehre“ werden als „Regeln 
für die Lebensklugheit der einzelnen“ betrachtet 
(Mohl). Nur die Volkswirtschaftspolitik und die 
Finanzwissenschaft werden als „Luntergeordnete 
Teile“ der Politik zugewiesen. 
Etwa um die Mitte des 19. Jahrh. werden 
die deutschen Staaten fast sämtlich moderne Ver- 
fassungsstaaten. Noch während der Kampf um 
die politischen und staatsbürgerlichen Rechte tobt, 
ziehen schon langsam volkswirtschaftliche und so- 
ziale Fragen das Interesse weiterer Kreise auf sich. 
Die gewaltigen technischen Errungenschaften im 
Verein mit der Kapitalassoziation führen zu einer 
vollständigen Umgestaltung der wirtschaftlichen 
Struktur. Infolge des maschinellen Großbetriebs 
wachsen die wirtschaftlich unselbständigen, von 
jeder ungünstigen Konjunktur schwer bedrohten 
Arbeitermassen gewaltig an. Es bildet sich eine 
gegen die Grundlagen der bestehenden Staats- 
ordnung ankämpfende radikale Bewegung. Das 
Dogma von der Nichteinmischung des Staats in 
das Wirtschaftsleben gerät ins Wanken, der ex- 
treme wirtschaftliche Liberalismus wird verdrängt 
durch das nationale Schutzsystem Friedrich Lists 
und die Forderungen der historisch ethischen Schule, 
welche bemüht ist, die widerstreitenden Interessen 
der einzelnen Volksschichten zu versöhnen, die Lage 
der wirtschaftlich schwachen Volkskreise zu heben. 
Der Staat wendet sich wieder der Wirtschafts- 
politik zu, er nimmt als neues Feld für seine Be- 
tätigung die Sozialpolitik auf. Und auch in der 
äußern Politik erlangen die wirtschaftlichen Fragen 
eine ganz andere Bedeutung. Die außerordentliche 
Entwicklung der Verkehrsmittel schafft einen ge- 
waltigen internationalen Güteraustausch, um- 
fangreiche weltwirtschaftliche Beziehungen, sie er- 
höht den Wert einer kolonialen Entfaltung. So 
finden die volkswirtschaftlichen Wissenszweige und 
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl. 
  
Staatswissenschaften. 
  
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die die „soziale Frage“ behandelnden Probleme 
zunehmende Beachtung, Gelehrte und Praktiker, 
Verwaltungsbeamte und Politiker in Staat und 
Kommune, Leiter großer wirtschaftlicher Unter- 
nehmungen und Sozialpolitiker, sie alle erkennen 
die große Wichtigkeit der richtigen Erkenntnis und 
Beurteilung der wirtschaftlichen und sozialen Vor- 
gänge. Darum bilden die volkswirtschaftlichen 
und sozialen Wissensgebiete seit den letzten Jahr- 
zehnten des 19. Jahrh. den weitaus am meisten 
gepflegten Teil der Staatswissenschaften, sie gelten 
vielfach sogar, wie schon oben erwähnt, als Staats- 
wissenschaften katexochen. 
Die Ursache zu dieser nicht streng korrekten Be- 
zeichnung liegt übrigens zu einem großen Teil 
darin, daß die Ende des 18. Jahrh. und Anfang 
des 19. Jahrh. namentlich auf den norddeutschen 
Universitäten geschaffenen, der philosophischen Fa- 
kultät angegliederten staatswissenschaftlichen bzw. 
volkswirtschaftlichen Lehrstühle die von ihnen ge- 
pflegten Disziplinen entsprechend dem damaligen 
Gebrauch „Staatswissenschaften“ nannten. Diese 
Lehrstühle behielten die alte Bezeichnung durch 
die diese Auffassung bekämpfende Zeit hindurch 
bei. Mit dem gesteigerten Interesse am Studium 
dieser Wissenszweige gelangt der Name wieder zu 
weiterer Verbreitung. Auch das große, fast aus- 
schließlich den Wirtschafts= und Sozialwissen- 
schaften dienende „Handwörterbuch der Staats- 
wissenschaften“ hat viel zur Verbreitung dieser 
Auffassung beigetragen. 
In der Anwendung des Begriffs Staatswissen- 
schaft lassen sich also drei verschiedene Zeitperioden 
auseinanderhalten: 1) die Zeit, wo der Name sich 
teils mit dem Ausdruck Staatskunde (Statistik im. 
älteren Sinn) teils mit der Bezeichnung Kameral- 
wissenschaften (Staatswirtschaftslehre) deckt, wo# 
man unter Staatswissenschaft weniger das Wissen 
vom Staat als das dem Staat bzw. dem Beamten 
zur Verwaltung des Staats dienende Wissen ver- 
stand, 2) die Zeit, wo vorwiegend die allgemein- 
staatsrechtlichen und naturrechtlich-politischen Pro- 
bleme und Wissensgebiete einschließlich der Staaten= 
geschichte darunter verstanden werden, 3) unsere 
Zeit, wo neben die juristischen Staatswissenschaften 
(Staatslehre, Staatsrecht usw.) die wirtschaftlichen 
und sozialen Wissenszweige in ihrem Verhältnis 
zum Staat getreten sind, die sehr oft auch für sich 
allein den Begriff Staatswissenschaften bilden. 
II. Vssege der Staatswissenschaften. Pflege- 
stätten der Staatswissenschaften sind in erster Linie 
natürlich die Universitäten. Hier treten diesem 
Wissensgebiet vor allem die Studierenden der 
juristischen Fakultät näher. Das juristische Stu- 
dium bildet ja nicht nur die Voraussetzung für 
den Richter= und Anwaltsberuf, es wird auch ge- 
fordert von dem Anwärter auf den höheren Ver- 
waltungsdienst im Staat und vielfach auch in der 
Gemeinde. Die rechtlichen Staatswissenschaften. 
gehören schon an sich zum Rechtsstudium, in ver- 
schiedenen deutschen Bundesstaaten (Bayern, Ba- 
den, Hessen usw.) bilden jedoch schon beim ersten 
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