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Dagegen unterliegen dieser Strafe nicht die
Richter und Staatsanwälte, weil diese unter dem
Zwang der Gesetze stehen.
II. Diese gemeinrechtlichen Bestimmungen haben
überall dort Geltung, wo ihnen nicht parti-
kuläres Recht entgegensteht. Schon die Bulle
In Coena weist darauf hin und nicht minder die
Konstitution Apostolicae Sedis sowie die In-
struktion von 1886, weil es heißt, die Bestim-
mungen sollen nur Geltung haben, wenn Kleriker
vor das weltliche Gericht gezogen werden praeter
canonicas sanctiones bzw. sine Apostolicae
Sedis licentia. Und auch das Motuproprio
ändert, wie wir noch sehen werden, hieran nichts.
Derartige partikulärrechtliche Ausnahmen kann
allein der Papst schaffen. Denn da es sich um
ein Standesprivileg handelt, ist es dem Willen
des einzelnen entzogen. Nur der kirchliche Gesetz-
geber kann es einschränken oder aufheben. Wenn
es, wie man früher und vereinzelt auch heute noch
angenommen hat, in dem ius divinum begründet
wäre, dann wäre allerdings eine Aufhebung oder
Einschränkung nicht möglich. Das ist nun aber
nach der fast einstimmigen Meinung der Kano-
nisten nicht der Fall. Das privilegium fori
beruht auf dem ius humanum und hängt mit
dem unabänderlichen ius divinum nur insofern
zusammen, als aus der dogmatischen Lehre von
den zwei Ständen, dem Klerus und den Laien,
Kirche und Staat den Schluß gezogen haben, es
sei unziemlich, die Geistlichen als die iure divino
bestellten Spender der Sakramente und Lehrer der
Laien diesen als Richter zu unterstellen. Dies
allein ist der Sinn der Erklärung des Triden-
tinums (Sess. XXV de ref. c. 20): das privi-
legium fori sei Dei ordinatione et canonicis
sanctionibus constitutum. Und wenn der Syl-
labus von 1864 (Nr 30) den Satz verwirft, die
Immunität der Kirche und kirchlichen Personen
habe ihren Ursprung im bürgerlichen Recht, so ist
doch keineswegs damit das ius divinum als
Quelle hingestellt, sondern nur die Behauptung
verurteilt, daß die Immunität einseitig vom
bürgerlichen Recht aufgehoben werden könne.
Deutlich ergibt sich dies aus der folgenden Pro-
position des Syllabus, welche den Satz kondem-
niert, das privilegium kori in den rein weltlichen
Standes= und Kriminalsachen müsse unbedingt
aufgehoben werden, etiam inconsulta et recla-
mante apostolica sede (Nr 31). Gerade dieser
Zusatz ist ein schlagender Beweis dafür, daß das
privilegium kori nicht auf dem ius divinum
beruht. Denn wäre dies der Fall, dann könnte
selbst der Papst niemals auf dasselbe, auch nicht
hinsichtlich der weltlichen Angelegenheiten der
Kleriker, verzichten. Und tatsächlich ist letzteres
doch in den neueren Konkordaten mehrfach ge-
schehen. Nur hinsichtlich einer Person, nämlich
des Papstes selbst, beruht das privilegium kori
auf dem ius divinum, weil die Befreiung des
Papstes von jeder weltlichen Gewalt unmittelbar
Klerus.
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aus dem Wesen des jure divino begründeten
Primats folgt (Wernz, Compend. praelect.
de iudiciis civilibus (Rom 1889] 260; ogl.
auch Heiner in der „Köln. Volkszeitung“ 1911,
Nr 1013; Göller ebd. Nr 1058).
Wenn nun das privilegium kori aller übrigen
Kleriker erst durch das ius humanum geschaffen
ist, dann steht auch nichts im Weg, daß es der
Papst — eine einseitige Aufhebung seitens des
Staats kann kirchenrechtlich nicht genügen —
unter andern Zeitverhältnissen wieder beschränkt
oder aufhebt, soweit die rein weltlichen Zivil= und
Kriminalsachen in Betracht kommen. Eine der-
artige Aufhebung bzw. Beschränkung
des privilegium fori ist, wenn wir von
dem Fall der Degradation eines Klerikers ab-
sehen, auf zweifache Weise möglich.
1. Durch ausdrückliche Erklärung, sei
es durch ein einseitiges kirchliches Gesetz, sei es,
und das ist praktisch die Regel, durch Konkor-
date. In der Tat haben die Päpste gerade im
19. Jahrh. in einer Reihe von Konkordaten
(Bayern, Osterreich, Baden und Württemberg;
vgl. Bd III, Sp. 292) den durch die Staats-
gesetzgebung teilweise bereits einseitig herbeige-
führten Zustand in mehr oder weniger großem
Umfang kirchenrechtlich sanktioniert. Derartige
Konzessionen bleiben aber auch bestehen, selbst
wenn das betreffende Konkordat einseitig vom
Staat aufgehoben oder gekündigt wird, solang sie
nicht von den Päpsten ausdrücklich zurückgenom-
men werden. Deshalb ist insbesondere in Öster-
reich auch nach Aufhebung des Konkordats das
privilegium fori nach wie vor für die Zivil= und
Kriminalsachen des Klerus abgeschafft.
2. Durch stillschweigende Zustimmung
zu einer längere Zeit üblichen Gewohnheit.
Wie gegen jedes andere Rechtsinstitut kann sich
auch gegen das privilegium fori hinsichtlich der
weltlichen Zivil= und Kriminalsachen der Kleriker
(abgesehen vom Papst selbst) ein Gewohnheits-
recht bilden, weil es nicht auf dem ius divinum
beruht. Voraussetzung ist aber, daß auch die
kanonischen Erfordernisse erfüllt sind. Und dies
läßt sich für die deutschen Staaten, die seinerzeit
ein Konkordat bzw. eine Konvention nicht ge-
schlossen haben, nachweisen. Da die Konvention
mit Baden auch päpstlicherseits 1860 aufgehoben
wurde, kommt hier gleichfalls ein etwaiges Ge-
wohnheitsrecht in Frage; dasselbe gilt für Bayern
hinsichtlich der Kriminalsachen; da in Württem-
berg dagegen das Konkordat vom Apostolischen
Stuhl nicht aufgehoben ist, beruht hier die Auf-
hebung des privilegium kori ebenso wie in
Osterreich auch heute noch auf jenen ausdrücklichen
Konzessionen des Papstes. Was nun die kanoni-
schen Voraussetzungen einer gewohnheitsrechtlichen
Derogation des privilegium kori anlangt, so ist
erfüllt
a) das Erfordernis der Rationabilität.
Im Dekretalenrecht ist das privilegium fori
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