Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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für geboten und benutzie dazu den Sommer und 
Herbst 1911, als die Marokkofrage die Mächte, 
nicht zuletzt England, in Spannung hielt. Im 
Juli 1911 erschien plötzlich mit russischer (nach 
außen allerdings geleugneter) Zustimmung und 
Unterstützung der 1909 nach Odessa verbannte 
Exschah Mohammed Ali auf persischem Boden. 
Auf seinem Vormarsch gegen Teheran unterlag 
der Exschah jedoch den Regierungstruppen oder 
richtiger den wilden Bachtiarenhorden, diesen 
Schutztruppen englischen Einflusses. Rußland ver- 
langte darauf von der persischen Regierung die 
Freigabe des Vermögens des Bruders des Exschah 
in der Form der Zurückziehung der persischen 
Gendarmen, ließ ein Expeditionskorps auf Te- 
heran marschieren und stellte ein Ultimatum (Nov. 
1911). Kaum hatte die persische Regierung die 
Forderungen erfüllt, da stellte Rußland schon ein 
zweites Ultimatum (Dez. 1911), Persien solle sich 
verpflichten, den Amerikaner Morgan Skuster, 
der die persischen Finanzen ordnen sollte, zu ent- 
lassen und künftig keine Ausländer ohne Ge- 
nehmigung Rußlands anzustellen. Da die Ein- 
führung des konstitutionellen Systems (19006), 
eines englischen Danaergeschenks, das durch lange 
Tyrannei und Despotismus schon geschwächte Land 
in eine Anzahl Parteien gespalten und alle staat- 
lichen Grundlagen vollends erschüttert hat, sah sich 
die Regierung gezwungen, wenn auch unter dem 
lebhaften Protest der Bevölkerung, auch diesen 
Forderungen Rußlands nachzugeben, zumal die 
von den Mächten, namentlich von England, er- 
wartete Intervention ausblieb. Mit der An- 
nahme dieses zweiten Ultimatums hat sich Per- 
sien seiner Unabhängigkeit begeben; es kann von 
jetzt an aus der Reihe der selbständigen Staaten 
gestrichen werden, wenn auch der Übergang 
des ehemals so mächtigen Reichs in den Zu- 
stand einer russischen Provinz wie Buchara oder 
Chiwa sich wohl nicht ohne weitere Zuckungen 
und Erschütterungen vollziehen wird. Der Süden 
des Landes wird natürlich zunächst England zu- 
fallen, welches das größte Interesse daran hat, daß 
Rußland nicht an den Persischen Golf gelangt. 
Red.) 
Pfarrer. Das Dekret der S. Congregatio 
Consistorialis „Maxima cura“ vom 20. Aug. 
1910 brachte Bestimmungen über die Amtsent- 
hebung der Pfarrer auf dem Verwaltungsweg. 
I. Veranlassung und Zweck des neuen 
Verfahrens. „Weil das Amt des Pfarrers 
mit einem auf Lebenszeit verliehenen Benefizium 
verbunden ist, gilt der Pfarrer als inamovibel. 
Allerdings ist die Inamovibilität keine absolute.“ 
Die Amtsentsetzung gegen den Willen des Pfar- 
rers kann erfolgen als Strafe im gerichtlichen 
Verfahren oder aber auf dem Verwaltungsweg 
(amotio oeconomica seu disciplinaris; bgl. 
Art. Pfarrer Bd IV. Sp. 125). Das letztere 
Verfahren war jedoch im kanonischen Recht nicht 
bestimmt genug geregelt; auch lag es unbedingt 
Pfarrer. 
  
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im Interesse der Seelsorge, daß die rechtliche 
Möcglichkeit erweitert wurde, einen unnützen und 
schädlich wirkenden Pfarrer aus einer Gemeinde 
zu entfernen. Diese Zwecke erstrebte bereits ein 
auf dem Vatikanischen Konzil gestellter Antrag 
deutscher Bischöfe (Konrad Martin, Omnium 
concilit Vaticani documentorum collectio 
[Paderborn 18731 173). Auch manche Ent- 
scheidungen der römischen Kongregationen be- 
günstigten im Interesse der Seelsorge die admini- 
strative Versetzung der Pfarrer (Acta Sanctae 
Sedis XXXVII (19041 374 ff). Keine andern 
Motive liegen dem von der Kommission für 
Kodifizierung des kanonischen Rechts entworfenen 
und von der S. C. Consistorialis begutachteten 
und publizierten Dekret „Maxima cura“ vom 
20. Aug. 1910 zugrunde. 
II. Die Anordnungen des Dekrets be- 
treffen: 1) die kanonischen Gründe für die Ent- 
fernung des Pfarrers aus dem Amt (can. 1), 
2) die beim Verfahren mitwirkenden Personen 
(can. 3/7), 3) den Gang des Verfahrens (can. 2; 
8/25). 4) die Versorgung des aus dem Amt Ent- 
fernten (can. 26/29), 5) den Geltungsbereich des 
Dekrets (can. 30/32). Die Gründe, auf welche 
hin das Verwaltungsverfahren eröffnet und der 
Pfarrer des Amts enthoben werden kann, sind 
teils unverschuldete Defekte (Nr 1 und 3), teils 
setzen sie als eigentliche Disziplinarfälle ein Ver- 
schulden des Pfarrers voraus (Nr 5/9); Nr 2 
und 4 können verschuldet, aber auch durch die 
Lage der Dinge objektiv gegeben sein. Die Be- 
nennung der Gründe ist enumerativ, so daß andere 
zur Eröffnung des Absetzungsverfahrens nicht 
angeführt werden können. Es sind 1) Geistes- 
krankheit; 2) Unerfahrenheit und Unwissenheit, 
welche den Leiter der Pfarrei unfähig machen 
zur Erfüllung seiner Amtspflichten; 3) Taub- 
heit, Blindheit und alle andern seelischen und 
leiblichen Gebrechen, welche den Pfarrer zur not- 
wendigen Ausübung der Seelsorgspflichten un- 
tauglich machen; 4) Haß beim Volk, sofern er die 
nützliche Wirksamkeit des Pfarrers hindert; 5) Ver- 
lust des guten Rufs bei rechtschaffenen und ernsten 
Männern; 6) ein zwar augenblicklich noch ver- 
borgenes Verbrechen, das aber voraussichtlich bald 
zum Argernis des Volks bekannt werden kann; 
7) eine schädliche, mit großem Nachteil für die 
Kirche oder das Benefizium verbundene Verwal- 
tung des kirchlichen Vermögens; 8) Vernachläs- 
sigung der pfarramtlichen Pflichten; 9) Unge- 
horsam gegen die Anordnungen des Ordinarius 
in wichtiger Sache trotz ein= oder zweimaliger 
Mahnung. Die bei Aufzählung der Gründe 
gleichzeitig getroffenen Kautelen nehmen der An- 
wendung des Verfahrens die Härte und recht- 
sertigen es im Interesse der Seelsorge. 
Während vor Erlaß des Dekrets in den da- 
mals anerkannten Fällen der Bischof allein in 
freier Entschließung zur administrativen Amts- 
entsetzung schreiten konnte, ist er jetzt an die Mit-
	        
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