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juristischen Examen auch die wirtschaftlichen Staais-
wissenschaften ein Hauptprüfungsfach. Umfassen-
dere Kenntnisse in diesen Wissenszweigen werden
namentlich von den Kandidaten des höheren Ver-
waltungsdiensts (z. B. preuß. Gesetz vom 10. Aug.
1906), ferner von Anwärtern auf den Konsulats-
und Diplomatsdienst, auf den höheren Post= und
Eisenbahndienst usw. gefordert. In den letzten
Jahrzehnten hat sich auch ein besonderes staats-
wissenschaftliches bzw. volkswirtschaftliches Berufs-
studium herausgebildet. Die aus ihm hervor-
gehenden sog. „praktischen Volkswirte“ treten in
den Dienst der großen wirtschaftlichen Interessen-
vertretungen, der Kartellverbände, der Handels-,
Handwerks= und Landwirtschaftskammern, der
staatlichen oder städtischen statistischen Amter, der
Banken, der Versicherungsanstalten, der Presse usw.
Über die geeignetste Grundlage für dieses Studium
sind die Meinungen allerdings noch geteilt; der
Streit dreht sich vor allem darum, welcher Anteil
dabei der Rechtswissenschaft wegen ihrer Bedeu-
tung für die formale Schulung zugewiesen werden
soll (ogl. die Verhandlungen der Generalversamm-
lung des Vereins für Sozialpolitik zu Magde-
burg 1907, Schriften dieses Vereins Bd 125).
Auch Philologen, vor allem Historiker, schenken den
Staatswissenschaften immer mehr Beachtung, und
nicht zuletzt sind es die Theologen, welche sich
namentlich mit den sozialen Staatswissenschaften
befassen.
Wie schon oben erwähnt, sind auf den nord-
deutschen Universitäten (also auf allen preußischen
Universitäten, außer der erst 1902 gegründeten
Universität Münster i. W., ferner in Leipzig,
Gießen und Jenq) die Wirtschaftswissenschaften
unter dem Namen Staatswissenschaften der philo-
sophischen Fakultät angegliedert, ebenso liegen die
Verhältnisse in Heidelberg und Erlangen. Beim
Doktorexamen (Hauptfach: Volkswirtschaftslehre,
Nebensächer: zwei oder drei andere Fächer der
philosophischen Fakultät) wird hier der Dr phil.
erworben. In Münster, Straßburg, Freiburg
i. Br. und Würzburg besteht eine „rechts= und
staatswissenschaftliche“ Fakultät, die Wirtschafts-
wissenschaften sind hier der juristischen Fakultät
angeschlossen, es findet eine Promotion zum „Dok-
tor der Staatswissenschaften“ (Dr rer. pol., in
Würzburg zum Ir iur. et rer. pol.) statt (Prü-
sungsgebiet: wirtschaftliche, rechtliche und philo-
sophische Staatswissenschaften). Eine eigne „staats-
wissenschaftliche“ (bis 1882 „staatswirtschaftliche“)
Fakultät besitzt Tübingen, eine besondere „staats-
wirtschaftliche“ Fakultät München. Beide Fakul-
täten tragen noch den Charakter der kameralistischen
Zeit an sich, als Lehrfächer umfassen sie neben der
Volkswirtschaftslehre noch die Forstwissenschaft
(früher auch technologische Wissenszweige, die
heute den technischen Hochschulen überwiesen sind),
Tübingen ferner noch das Staats- und Verwal-
tungsrecht. Tübingen verleiht den „Doktor der
Staatswissenschaften“, München den I)r #c. pull.
Staatswissenschaften.
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Dem namentlich aus den Kreisen praktischer Volks-
wirte geäußerten Wunsch nach einer die kostspielige
Promotion beseitigenden Schlußprüfung an den
Universitäten hat bisher nur die Universität Jena-
(Ministerialerlaß der thüringischen Regierungen
vom 30. Aug. 1907) entsprochen durch Einführung
einer „staatswissenschaftlichen Diplomprüfung“
(nach fünfsemestrigem Studium, schriftlich und
mündlich). Doch hat der Versuch, da die Zulas-
sungsbedingungen sich mit dem Besitz des Ein-
jährig-Freiwilligen-Zeugnisses begnügen, in aka-
demischen Kreisen eine Ablehnung erfahren. Die
Eingliederung der Staatswissenschaften in das
akademische Studium ist schon seit Jahren Gegen-
stand lebhafter Diskussion. Vor allem handelt es
sich um die Frage, ob das preußische System bei-
behalten oder umgestaltet werden soll, ob also die
Wirtschaftswissenschaften bei der philosophischen
Fakultät bleiben oder ob sie der juristischen Fakul-
tät angegliedert werden sollen. Auch Wünsche nach
besondern „wirtschaftlichen Fakultäten“ sind laut
geworden, man will ihnen neben den national-
ökonomischen Gebieten vor allem Landwirtschafts-
lehre, Forstwissenschaft usw. zugewiesen wissen.
Die Einreihung der wirtschaftlichen Staats-
wissenschaften in die juristische Fakultät wird na-
mentlich befürwortet mit Rücksicht darauf, daß die
Mehrzahl der Studierenden dieser Wissenszweige
doch Juristen seien und daß für diese allein jene
Fächer auch bei den Staatsprüfungen vorkämen.
Anderseits wird auf die Verschiedenheit der Rechts-
wissenschaft und der wirtschaftlichen Staatswissen-
schaften nach Charakter und Methode hingewiesen.
Diese seien ihrer Natur nach nicht deduktiv, son-
dern induktiv; sie hätten nicht die Aufgabe, aus
ihrem Stoff allgemeine Begriffe abzuleiten und
diese in ein logisches System einzuordnen, sondern
sie sollten den kausalen Zusammenhang der er-
fahrungsmäßigen Erscheinungen untersuchen und
diesen in allgemeinen Sätzen ausdrücken (Lexis,
Die Universitäten 221). Die wirtschaftliche Ge-
setzgebung würde in der Volkswirtschaftslehre ganz
anders behandelt wie im wirtschaftlichen Verwal-
tungsrecht, nämlich wesentlich kritisch und politisch,
mit Rücksicht auf ihre Zweckmäßigkeit und ihre
erfahrungsmäßig zu erforschende Wirkung. So
ständen die Wirtschaftswissenschaften hinsichtlich
ihrer Methode den historischen Wissenschaften und
selbst den Naturwissenschaften näher als der Rechts-
wissenschaft.
Neben die Universitäten sind die Fachhoch-
schulen getreten. Von diesen haben die größeren
technischen Hochschulen auch den Staats-
wissenschaften in der „Allgemeinen Abteilung“
einen Platz eingeräumt. Die weitere Ausgestal-
lung des staatswissenschaftlichen Unterrichts auf
den technischen Hochschulen wird von seiten der
Diplomingenieure mit Nachdruck gefordert. Heute
legen viele von diesen das staatswissenschaftliche
Doktoreramen an den Universitäten ab. Das
Streben geht zum Teil dahin, daß staatswissen-