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in die versicherungspflichtige Beschäftigung das
30. Lebensjahr überschritten haben und seit min-
destens drei Jahren in der vorbezeichneten Art
versichert sind.
Eine bedeutende Erleichterung liegt in den
Übergangsbestimmungen (8§ 395 ff). In den
ersten 3 Jahren kann auf Grund ärztlicher Unter-
suchungen einzelnen Angestellten gestattet werden,
die Wartezeit zum Bezug der Leistungen dieses
Gesetzes durch Nachzahlung abzukürzen. In den
ersten 10 Jahren genügt zur Erfüllung der Warte-
zeit bei den Hinterbliebenenrenten das Zurücklegen
von 60 Beitragsmonaten auf Grund der Ver-
sicherungepflicht. Angestellte, die beim Inkraft-
treten des Gesetzes das 55. Lebensjahr bereits
vollendet haben, werden auf Antrag von der Ver-
sicherungspflicht befreit, wenn ihnen die Abkürzung
der Wartezeit nicht gestattet wird oder aus einem
andern Grund unmöglich ist. Tritt der Ver-
sicherungsfall innerhalb der ersten 15 Jahre nach
dem Inkrafttreten des Gesetzes ein, ohne daß ein
Anspruch auf Leistungen nach diesem Gesetz geltend
gemacht werden kann, so steht beim Tod des Ver-
sicherten der hinterlassenen Witwe oder dem Wit-
wer oder, falls solche nicht vorhanden sind, den
hinterlassenen Kindern unter 18 Jahren ein An-
spruch auf Erstattung der Hälfte der für den Ver-
storbenen eingezahlten Beiträge zu. Bei der frei-
willigen Versicherung werden drei Viertel der
eingezahlten Beiträge zurückerstattet. Der An-
spruch muß binnen Jahresfrist geltend gemacht
werden.
Als besonders bemerkenswert ist noch zu kon-
statieren, daß die Schlußabstimmung über das
Gesetz im Reichstag (5. Dez. 1911) die einstim-
mige Annahme desselben ergab, ein Erfolg, der
wohl keinem andern sozialen Gesetz von so hoher
Bedeutung zuteil geworden ist. IH. Sittart.]
Schaumburg-Lippe. Fürst Georg starb
am 29. April 1911, ihm folgte in der Regierung
sein ältester Sohn Adolf (geb. 23. Febr. 1883).
Die Rechtslage der katholischen Kirche
wurde vom Staat neugeregelt durch das Gesetz
vom 18. März 1911. Die katholischen Pfarr-
gemeinden sind seitdem Körperschaften des öffent-
lichen Rechts und werden gebildet durch die
Gesamtheit aller in ihrem Bezirk wohnenden Ka-
tboliken. Ihr räumlicher Umfang wird nach An-
hörung der Beteiligten mit Zustimmung des
Ministeriums durch den Bischof von Osnabrück
als den zeitigen kirchlichen Obern der norddeut-
schen Missionen festgesetzt; ebenso etwaige spätere
Erweiterungen oder Minderungen dieses Um.
fangs. Das Ministerium übt das staatliche
Oberaussichtsrecht gegenüber den Pfarrgemeinden
aus. Zum kirchenordnungsmäßigen Bestand einer
katholischen Pfarrgemeinde gehört der Kirchen-
vorstand und das Pfarramt. Der Pfarrer wird
vom Bischof ernannt; dieser muß sich jedoch vor
der Ernennung vergewissern, daß das Ministerium
gegen den betr. Geistlichen keinen Einspruch er-
Schaumburg-Lippe — Sozialversicherung.
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hebt. Wenn auf die Anzeige der beabsichtigten
Anstellung innerhalb 30 Tagen gegen den Kan-
didaten ein Einspruch nicht erhoben wird, so gilt
die Zustimmung als erteilt. Der Kirchenvorstand,
gewählt nach Statuten, die vom Ministerium ge-
nehmigt werden müssen, vertritt die Gemeinde in
allen kirchlichen und Verwalt
nach innen und außen, auch vor Gericht. Jede
Pfarrgemeinde ist verpflichtet, die zur Erreichung
ihrer Aufgaben nötigen gottesdienstlichen und
sonstigen Einrichtungen in angemessener Weise
herzustellen und zu unterhalten und vorbehaltlich
etwaiger besonderer Beitragspflicht Dritter die
dazu erforderlichen Mittel insoweit aufzubringen,
als die Einkünfte aus dem örtlichen Gemeinde-
vermögen nicht ausreichen. Zur Erfüllung dieser
Obliegenheiten hat jedes selbständige Mitglied
einer Kirchengemeinde, welches sich seit mindestens
drei Monaten in dem Bezirk aufhält (ausgenom-
men etwaige Mitglieder des fürstlichen Hauses),
die Pflicht, Kirchensteuern zu zahlen. Diese wird
als Zuschlag zu der Einkommen-, Grund= und
Gebäudesteuer erhoben. Die vom Kirchenvorstand
zu beschließende Höhe der Steuer bedarf der staat-
lichen Genehmigung. Jedem zur Zahlung von
Kirchensteuern Herangezogenen steht gegen die
stattgehabte Einschätzung das Recht zur Pechmerde
an das Ministerium zu. Red.)
Sozialversicherung. Die Reichsver-
sicherungsordnung vom 19. Juli 1911
sieht von der früher beabsichtigten organischen
Verschmelzung der drei Zweige der staatlichen
Arbeiterversicherung ab. Sie begnügt sich, un-
beschadet des Ausgleichs einzelner Punkte, damit,
mehr äußerlich die bisher in besondern Gesetzen
behandelten Gebiete der Kranken-, Unfall= und
Invalidenversicherung in einem Gesetz zu be-
handeln, dem ein Einführungsgesetz beigegeben
ist. Neu hinzugetreten ist die der Invalidenver-
sicherung eingegliederte Hinterbliebenenversiche-
rung. Die Reichsversicherungsordnung umfaßt
sechs Bücher.
I. Buch. Gemeinsame Vorschriften. Die
rechtsfähigen Träger der Versicherung
sind, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt,
für die Krankenversicherung die Krankenkassen,
für die Unfallversicherung die Berufsgenossen-
schaften (die Zweiganstalten), Versicherungs-
genossenschaften, das Reich, die Bundesstaaten,
für leistungssähig erklärte öffentliche Körperschaften
(Ausführungsbehörden). Für die Invaliden-
und Hinterbliebenenversicherung die
Versicherungsanstalten und die Sonder-
anstalten. Ihre Organe sind insbesondere die
Vorstände. Sie vertrelen die Versicherungsträger
gerichtlich und außergerichtlich in der Stellung eines
gesetzlichen Vertreters. Wählbar zu den Organen
sind nur volljährige Deutsche. Nicht wählbar ist,
wer infolge gerichtlicher Verurteilung die Fähig-
keit zur Bekleidung öffentlicher Amter verloren hat
oder gegen den ein Hauptverfahren wegen eines