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schaftlich vorgebildete Diplomingenieure in gleicher
Weise wie die Gerichtsreferendare zur Ausbildung
in den Geschäften der höheren Staatsverwaltung
zugelassen werden. Ganz besonders namentlich der
wirtschaftlichen Staatswissenschaften angenommen
haben sich auch die erst im letzten Jahrzehnt ent-
standenen Handelshochschulen. Die be-
deutendsten derselben (Köln, Berlin, Akademie
für Sozial= und Handelswissenschaften zu Frank-
furt a. M. usw.) geben treffliche Gelegenheit zur
Erwerbung und Vertiefung staatswissenschaft-
lichen Wissens. Von andern Fachhochschulen sind
hier zu nennen das Kolonialinstitut in Hamburg,
die (1911 gegründete) Akademie für kommunale
Verwaltung in Düsseldorf, die landwirtschaft-
lichen Hochschulen, die Forst= und Bergaka-
demien usw.
Sehr beachtenswerte Einrichtungen sind in
neuester Zeit ferner entstanden in den Vereini-
gungen für staatswissenschaftliche
Fortbildung, an sich privaten Gründungen,
die sich aber der weitestgehenden Förderung
und Unterstützung der höchsten Staatsbehörden
erfreuen. Diese Vereinigungen wollen „gereiften
Personen, die im Besitz ausreichender Vorbildung
sind“, namentlich höheren Verwaltungsbeamten
und Juristen, aber auch andern mit dem öffent-
lichen Leben in Beziehung stehenden Berufen wie
Industriellen, Technikern, Kaufleuten, Arzten usw.
durch Veranstaltung von Fortbildungskursen Ge-
legenheit zur Erweiterung und Vertiefung der
juristischen und wirtschaftlichen Staatswissen-
schaften geben. Die Kursusteilnehmer werden so-
wohl mit den neuesten Ergebnissen staatswissen-
schaftlicher Forschung bekannt als auch in enge
Fühlung gebracht mit allen beachtenswerten Ein-
richtungen und Vorgängen des praktischen Staats-
und Wirtschaftslebens. Zurzeit bestehen Ver-
einigungen für staatswissenschaftliche Fortbildung
in Berlin (seit 1902), Köln (1906), Mannheim
(1910); Österreich besitzt eine solche in Wien
(1909). In Berlin findet ein viermonatiger
Winterkurfus (Ende Okt. bis Mitte Febr.) und
ein sechswöchiger Frühjahrskursus (zwischen Ostern
und Pfingsten) statt, in Köln und Wien jährlich
zwei vier-bis fünfwöchige Fortbildungskurse. Die
Leitung liegt in den Händen höherer Verwaltungs-
beamter und Hochschullehrer. Neben konversato-
rischen Vorlesungen gehen Ubungen, Exkursionen
und Besichtigungen einher; den Schluß bildet ge-
wöhnlich eine größere Studienreise. Welche Be-
deutung die einzelnen Regierungen diesen Ver-
anstaltungen zuerkennen, zeigt der Umstand, daß
sie ihren höheren Beamten bereitwilligst Urlaub
für diese Kurse gewähren und eine Teilnahme der
Beamten geradezu wünschen. — In diesem Zu-
sammenhang ist auch die 1903 von Großkauf-
leuten und Großindustriellen gegründete „Gesell-
schaft für wirtschaftliche Ausbildung“ zu Frank-
furt a. M. zu nennen, die den Ingenieuren, Che-
mikern, Kaufleuten, Verwaltungsbeamten usw.
Staatswissenschaften.
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praktisch-wirtschaftliche, namentlich kaufmännischer
und industrieller Art, Kenntnisse vermitteln durch
kürzere und längere Vortragskurse und die Wirt-
schaftswissenschaft durch die Erfahrungen der
Praxis befruchten durch literarische Tätigkeit.
Auch die Gehe-Stiftung gehört hierher.
Als Schöpfung eines Dresdner Kaufmanns trat
sie 1882 mit 2 Mill. Jl Kapital ins Leben, um
Bildung zu verbreiten „in Bezug auf alle Ge-
biete des öffentlichen Lebens, deren Kenntnis zu
gedeihlich-öffentlichem Wirken führt“. Die Gehe-
Stiftung hat durch Herbeiziehung von Hochschul-
lehrern zu Vortragskursen in und außerhalb
Dresdens, durch Errichtung ständiger Lehrämter
für Jurisprudenz, Volkswirtschafts= und Staats-
lehre, ferner durch eine Spezialbibliothek von
80 000 Bänden eine Bildungsstätte geschaffen,
deren Wirken sich weit über Dresden und das säch-
sische Königreich hinaus erstreckt (Jahrbuch der
Gehe-Stiftung, seit 1896).
Unter den staatswissenschaftliche Probleme pfle-
genden wissenschaftlichen Vereinen steht wohl an
erster Stelle der Verein für Sozialpolitik,
der 1872 von den auf dem Boden des sog. Katheder-
sozialismus stehenden Hochschullehrern gegründet
wurde und durch seine umfangreichen wissenschaft-
lichen Untersuchungen (Schriften des Vereins für
Sozialpolitik 1911: 135 Bde) hervorragenden
Anteil am Zustandekommen und am weiteren
Ausbau der deutschen sozialen Gesetzgebung hat.
— Den Ausbau und die internationale Reglung
des gesetzlichen Arbeiterschutzes erstrebt die Inter-
nationale Vereinigung für gesetzlichen
Arbeiterschutz (Sitz Basel); deren deutsche
Sektion ist die Gesellschaft für soziale
Reform (gegr. 1901). — Auf katholischer Seite
verdient die Görres-Gesellschaft Erwähnung,
die in der „Sektion für Rechts= und Sozial-
wissenschaften“ auch den staatswissenschaftlichen
Fragen eingehende Beachtung schenkt und durch die
Herausgabe des „Staatslexikons“ für die Ver-
breitung und Vertiefung staatswissenschaftlichen
Wissens Wertvolles geleistet hat. Nicht nur auf
organisatorischem Gebiet ganz Hervorragendes
leistet auch der Volksverein für das katho-
lische Deutschland, namentlich seine ver-
schiedenen Kurse für Akademiker und den gebil-
deten Mittelstand, aber auch die für die einfachen
Volkskreise tragen zur Förderung der volkswirt-
schaftlichen und staatswissenschaftlichen Bildung
wesentlich bei. — Mit der wissenschaftlichen
Erörterung staatswissenschaftlicher und sozialer
Fragen auf protestantischer Seite befaßt sich der
Evangelisch-soziale Kongreß, der 1890
von Stöcker gegründet wurde. Stöcker schied jedoch
1896 aus, weil die kirchlich-liberale Richtung die
Oberhand gewann. — Eine Pflegestätte der so-
zialen Staatswissenschaften ist auch die vom Reich
und den Bundesstaaten subventionierte Zentral-
stelle für Volkswohlfahrt in Berlin (ge-
gründet 1891, neuorganisiert 1906).
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