Full text: Staatslexikon. Fünfter Band: Staatsrat bis Zweikampf. (5)

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Mehr als ein Fünftel des gesamten deutschen 
Volks wohnt heute in Großstädten. In keinem 
Land Europas hat der Verstadtlichungsprozeß in 
den letzten Jahrzehnten so gewaltige Fortschritte 
gemacht wie im Deutschen Reich. Noch vor 30 
Jahren wohnten von dessen Bevölkerung etwa drei 
Fünftel auf dem Land und nur zwei Fünftel in 
den Städten; heute ist das Verhältnis gerade 
umgekehrt. Die 20 Millionen, um die das Reich 
in dieser Zeit zugenommen hat, sind fast aus- 
schließlich den Städten zugut gekommen. Während 
die städtische Bevölkerung von 16 Millionen im 
Jahr 1875 auf 35 im Jahr 1905, also um weit 
mehr als das Doppelte gewachsen ist, ist die länd- 
liche Bevölkerung mit ihren 26 Millionen nahezu 
stabil geblieben. In Preußen waren am 1. Dez. 
1910: 281 Städte und 106 Landgemeinden mit 
10 000 und mehr Einwohnern vorhanden, welche 
insgesamt 17659 765 (15348 735 + 23110300 
Einwohner, das sind 43.98 % der gesamten Be- 
völkerung des preußischen Staats, beherbergten. 
Nach dem jeweiligen Stand zählte diese Gemeinde- 
gruppe 1905 erst 15 098 833 Bewohner oder 
40,49% und 1900 nur 12668 260 oder 36,75% 
der Gesamtbevölkerung. Einen höheren Prozent- 
satz an städtischen Bewohnern als das Deutsche 
Reich haben heute nur noch Großbritannien, die 
Vereinigten Staaten von Amerika und die wegen 
ihres geringen Gebietsumfangs hier kaum ver- 
gleichbaren Niederlande aufzuweisen. 
Diese bedeutsamen Bevölkerungsbewegungen 
blieben natürlich nicht ohne nachhaltigen Einfluß 
auf die wirtschaftliche Struktur Deutsch- 
lands und die soziale Zusammensetzung 
der Bevölkerung. Das Charakteristische an dieser 
Erscheinung ist: einmal die Verschiebung des 
Schwergewichts von der Landwirtschaft zur In- 
dustrie und dann die Ansiedlung der Industrie 
und gewaltiger Arbeitermassen in den Städten. 
Wie die Einwohnerzahl der Dörfer in ihrer Ge- 
samtheit, so hat auch die Ziffer der in der Land- 
wirtschaft Erwerbstätigen seit Jahrzehnten keine 
nennenswerten Veränderungen erfahren, während 
in Gewerbe und Industrie, Handel und Verkehr 
immer mehr Millionen Beschäftigung und Unter- 
halt finden. Mehr als ein Viertel aller Gewerbe- 
betriebe des Deutschen Reichs hat heute seinen Sitz 
in den Großstädten, ihr Anteil an den gewerbe- 
tätigen Personen ist mit ungefähr einem Drittel 
noch wesentlich höher. 
Die Ansiedlung der bedeutendsten Industrien in 
den Städten hatte auch eine erhebliche Zunahme der 
städtischen Einkommen und die Ansammlung 
eines immer wachsenden Teils des National- 
reichtums zur Folge. In Preußen be- 
trug z. B. im Jahr 1908 das ergänzungssteuer- 
pflichtige Vermögen insgesamt 92 Milliarden al; 
davon entfielen auf das Land 33 (35,9% ) und 
auf die Städte 59 Milliarden (64,1%)0). Das 
steuerbare Einkommen der physischen Zensiten be- 
zifferte sich im gleichen Jahr bei der ländlichen 
Städtewesen, modernes. 
  
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Bevölkerung auf 3,8, in den Städten dagegen auf 
9 Milliarden. Ahnlich verhält es sich auch in den 
andern Staaten. In Baden war die staatliche 
Vermögenssteuer für das Jahr 1910 mit einem 
Ertrag von rund 10 Millionen # veranlagt; da- 
von hatten die 14 größten Städte (mit mehr als 
10 000 Einwohnern) über die Hälfte (5.6 Mill.) 
und die Gemeinden unter 4000 Einwohner 
3,4 Mill. Ak aufzubringen. Bei der Einkommen- 
steuer ist der Unterschied zwischen Stadt und Land 
noch größer. Über 11 Mill. AI. das sind 61, 5% 
des gesamten Steuerbetreffnisses, das für das 
gleiche Jahr auf 17,9 Mill. festgestellt war, ent- 
fielen auf die 10 größten Städte des Landes. 
Daß die Steuerkraft der Städte von wesentlicher 
Bedeutung für den Steuersäckel des Staats und 
die Fülle von Kulturaufgaben ist, die daraus zum 
Wohl des ganzen, insbesondere auch des platten 
Landes geleistet werden, bedarf wohl keiner weiteren 
Ausführungen. 
Wie im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen 
Leben, so stehen die Städte auch bezüglich Wissen- 
schaft und Kunst an der Spitze der Nationen. 
In den größeren Städten werden nicht nur die 
bedeutendsten Zeitungen gedruckt und gelesen, son- 
dern auch die meisten Bücher verlegt und ge- 
schrieben. Die wissenschaftliche Produktion und 
Arbeit ist hier am größten. Von den 21 Universi- 
täten Deutschlands haben mehr als die Hälfte (12) 
ihren Sitz in Städten von mehr als 80 000 Ein- 
wohnern, und von den rund 55 000 Studenten, 
welche im Wintersemester 1910/11 an denselben 
immatrikuliert waren, entfallen etwa 35000 allein 
auf die Großstädte. Die 8 technischen Hochschulen 
sind mit einer Ausnahme in Großstädten, die 
4 Handelsschulen und die 5 tierärztlichen Hoch- 
schulen sind sämtlich in Großstädten untergebracht. 
Es besteht ein edler Wettbewerb unter den größeren 
Städten des Deutschen Reichs, durch Pflege und 
Förderung der wissenschaftlichen und künstlerischen 
Bestrebungen das geistige Niveau ihrer Einwohner 
zu heben. Die Stadtverwaltungen sind sich längst 
bewußt, daß sie auch ihrerseits für kulturelle 
Zwecke, die nicht unmittelbar zu ihrem Aufgaben- 
kreis gehören, Mittel bereitstellen müssen, sei es 
für eigne Unternehmungen, sei es in Form der 
Subventionierung von privaten oder gemein- 
nützigen Bestrebungen. In manchen Städten 
(Frankfurt a. M., Köln, München, Dresden, 
Mannheim usw.) hat auch die Opferwilligkeit 
wohlhabender Bürger großartige Stiftungen und 
Anstalten geschaffen, die der Kunst und Wissen- 
schaft dienen. Wo nicht fürstliche Gönner mit 
stets opferwilligen Händen die künstlerischen Be- 
strebungen und Einrichtungen unterstützen, sind 
die großen Kunstinstitute mit ihrem teuern Per- 
sonal und kostspieligen Ausstattungen, wie Theater, 
Opernhäuser und Orchester, schon aus finanziellen 
Gründen auf bedeutende Plätze mit möglichst zahl- 
reichen Interessenten angewiesen, um Hervor- 
ragendes bieten zu können. Auch die freien Künst-
	        
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