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Stahl, Friedrich Julius. Friedrich Ju-
lius Stahl, den 16. Jan. 1802 aus einer streng-
gläubigen jüdischen Familie in München geboren,
trat 1819 zum Christentum lutherischer Konfession
über, machte in demselben Jahr den philologischen
Konkurs, studierte sodann an den Universitäten
Würzburg, Heidelberg und Erlangen die Rechte
und habilitierte sich 1827 als Privatdozent in
München. Im Jahr 1830 erschien bereits der
erste Band der „Philosophie des Rechts nach ge-
schichtlicher Ansicht“ in Heidelberg. Darin ent-
faltete Stahl eine zersetzende Kritik der damaligen
Theorie des Naturrechts, an dessen Stelle er eine
Staatslehre im Sinn des Christentums aufzubauen
versuchte. 1832 wurde er außerordentlicher Pro-
fessor in Würzburg, bald darauf ordentlicher Pro-
fessor für Staals= und Kirchenrecht in Erlangen.
Im Jahr 1840 folgte Stahl gleichzeitig mit
Schelling einem Ruf nach Berlin. Er las daselbst
über Staatsrecht, Kirchenrecht und Rechtsphiloso-
phie, selbst über Geschichte der Philosophie vor
einem großen Auditorium aus den höheren Kreisen
der Gesellschaft. Mit der Berufung Stahls und
der Ubernahme des Gesetzesministeriums durch
Savigny begann für die juristische Fakultät der
Berliner Universität eine neue Epoche. Die Rechts-
philosophie und die Politik traten in die historische
Schule der Fakultät ein. In Berlin wurde Stahl
nach Treitschke „so ganz zum Christen und zum
Preußen, daß seine Stammesgenossen ihn bald
nicht mehr zu den Ihrigen zählen wollten“. Als
politischer Schriftsteller machte Stahl sich durch
seine Flugschrift „Uber das monarchische Prin-
zip“ (1846) zuerst bemerkbar.
Während der Stürme des Jahrs 1848 be-
währte sich Stahl als unerschütterlicher Anhänger
der monarchischen Verfassung und des
Königs. Schon 1849 wurde er von Friedrich
Wilhelm IV. zum lebenslänglichen Mitglied der
Ersten Kammer, des späteren Herrenhauses, er-
nannt. Hier wurde er der Führer der konservativen
Partei. Er trat als ausgesprochener Vertreter des
göttlichen Rechts und des christlichen Staatsprin-
zips auf und verwahrte sich gegen den von dem
Liberalismus erhobenen Vorwurf der Reaktion.
Er schrieb in diesem Sinn Artikel in die „Neue
Preußische Zeitung“ (Kreuzzeitung) und die
Schrift „Die Revolution und die konstitutionelle
Monarchie“ (1848, 21849). Darin betont er,
daß er von jeher für das verfassungsmäßige Recht
und die Konstitution eingetreten, sich als Freund
einer männlichen, sittlichen und geordneten Frei-
heit bewährt habe. Seine konservative und mon-
archische Gesinnung habe unter den Märzstürmen
in keiner Weise gelitten. Für die Revolution
könne er so lange keine Sympathie empfinden, bis
sie eine bleibende Ordnung begründet habe. Die
ersehnte Freiheit und Einheit Deutschlands könne
allein auf den festen Fundamenten der Ordnung
aufgebaut werden. Stahl war eines der her-
vorragendsten Mitglieder des Herrenhauses und
Staatslexikon. V. 3. u. 4. Aufl.
Stahl.
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entfaltete durch volle 14 Jahre eine glänzende
parlamentarische Wirksamkeit. Er stand auf der
äußersten Rechten, welche nur wenige Mitglieder
zählte. Die Partei konnte praktisch wenig durch-
führen; sie mußte sich begnügen, ihre Grundsätze
immer aufs neue zu proklamieren. Dies verstand
keiner in so glänzender, formvollendeter Weise zu
tun als Stahl. Infolge der Neuwahlen vom
Jahr 1850 kamen eine Reihe konservativer Ele-
mente in die Erste Kammer, und die revolutionäre
Stimmung verlor an Boden. Durch die Energie
der konservativen Partei, deren mächtiger Führer
Stahl war, wurde die Regierung selbst wieder in
konservative Bahnen gelenkt. Dieses Bestreben
wurde von dem revolutionären Liberalismus als
„Reaktion“ in allen Tonarten verschrien. Wäh-
rend er bei den Liberalen als gefährlicher Sophist
galt, sahen die Konservativen in Stahl und seinem
System den Felsen ihrer Partei. Nach Landsberg
bildete der kleine, redegewandte, höfliche Führer
zu den Mitgliedern der konservativen Partei „einen
Gegensatz von geradezu weltgeschichtlicher Ironie“.
Als Berater Friedrich Wilhelms IV. übte er zu-
sammen mit Hengstenberg und Gerlach bis 1858
einen bedeutenden politischen Einfluß aus. Durch
die Herausgabe seiner parlamentarischen Reden
(drei Sammlungen: 1851, 1856, 1862) und
seiner Vorträge über „die Parteien in Staat und
Kirche“ (1863) wurden die Anschauungen Stahls
über den unabhängigen strengen Konservatismus
wirksam weitergetragen. Stahl sah sich genötigt,
bei wichtigen Gesetzesvorlagen der schwankenden
Haltung des preußischen Ministeriums entgegen-
zutreten und namentlich in den Jahren 1855/60
dessen liberalisierenden Tendenzen eine energische
Opposition zu machen. Mit aller Macht trat er
für eine konservative und christliche Auffassung
vom Staat, von der Ehe und der Schule ein, be-
sonders aber kämpfte er für die monarchische Ver-
fassung des preußischen Staats. Er bekämpfte die
Ideen der Trennung von Staat und Kirche, na-
mentlich aber die Versuche der Union zwischen den
Lutheranern und den Kalvinisten, und erhob seine
Stimme gegen die evangelische Allianz. Ebenso
bekämpfte er in reiferen Jahren die Zivilehe.
Stahl war eine Säule des positiv gläubigen
Teils der lutherischen Kirche und hatte nament-
lich als Mitglied des Oberkirchenrats (1852/57)
auf die Ausgestaltung derselben eine große Macht.
Besonderes Aufsehen rief seine Streitschrift „Wider
Bunsen“ (1856) gegen dessen „Zeichen der Zeit“
hervor. Uberall trat er für historisches Recht und
für die Autorität auf staatlichem und kirchlichem
Gebiet ein. Den Vorwurf, daß er die ganze
menschlich freie Geistesentwicklung der Neuzeit im
Grund seiner Seele gehaßt habe, verdient er nur
dann, wenn darunter die Entwicklung eines glau-
bens= und autoritätslosen Individualismus ver-
standen wird. Stahl wareineselbstlose, edle Gestalt,
aber ein reiner Verstandesmensch mit unbeugsamer
Uberzeugung; zufrieden mit einem bescheidenen
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