verstehen — aber um so stärker wurde meines Erachtens dem eigenen,
seiner Bindungen unkundigen Volke gegenüber die Oflicht, nicht Frank-
reich und Rußland die Entscheidung zu überlassen, ob und wann der Krieg
ausbrechen sollte.
Sir Thomas Barclay, den man den Vater der Entente genannt hat,
sagt in seinen im April 1914 erschienenen Erinnerungen,! ein Freund habe
ihm geschrieben: „Trauern Sie nicht manchmal über die fürchterliche Per-
version der Entente cordiale aus einem Werkzeug des Friedens in die
größte Bedrohung mit einem europäischen Kriege, die jetzt besteht?“"
Darauf erwiderte Barclay: „Daß die Entente pervertiert worden ist,
steht außer Frage .. Zum Glück haben weisere Erwägungen wieder die
Oberhand gewonnen Heute würde es keinem nüglichen Zweck mehr
dienen, die Schürer der nationalen Gegensätze bloßzustellen. Sie sehen jetzt
die Torheit einer Agitation ein, welche die Grundlagen des europäischen
Konzerts untergrub.“ 2
Schade, daß Barclay damals die Schürer nicht bloßgestellt hat. Heute,
nachdem die neue englische Dokumentensammlung erschienen ist, schließe
ich mich der Auffassung Graf Montgelas’ an, daß „dem franzosenfreund-
lichen Grey ein russenfreundlicher Unterstaatssekretär (Nicolson) und ein
erxtrem deutschfeindlicher Vizeunterstaatssekretär (Crowe) zur Seite standen“.
Und Deutschlands Schuld?
Die Anklage: die deutsche Militärpartei habe planmäßig den Weltkrieg
entfesselt, braucht uns heute nicht mehr zu schrecken, seitdem wir wissen, daß
der Chef des Großen Generalstabs v. Moltke im Grunde ein Pazifist war,
ohne volles Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten und ohne Glauben an
Deutschlands Kraft, den Weltkrieg zu einem guten Ende zu führen. In
seiner Gewissenhaftigkeit zögerte er fast länger, als es die Sicherheit des
Reiches erlaubte, dem Kaiser die allgemeine Mobilmachung anzuraten."“
Eines aber steht für mich fest: daß wir an dem Beitritt Englands zur
Entente eine Schuld haben, durch das Versagen unseres politischen In-
1 „Thirty TYears Anglo-French Reminiscences 1876—1906.“ London 1914.
2 Ebenda S. 283.
* Vgl. auch Haeftens Schilderung von Moltkes Zögern bei Theobald v. Schäfer,
Generaloberst v. Moltke in den Tagen vor der Mobilmachung und seine Einwirkung
auf Osterreich-Ungarn, in „Die Kriegsschuldfrage“, 4. Jahrgang, Nr. 8, S. 533ff.
* Graf Montgelas weist nach, daß am 27. Juli die deutsche Regierung eigentlich
das Versprechen nicht hätte geben dürfen, nicht zu mobilisieren, solange Rußland
nur gegen Osterreich mobilisiere. Jeder Aufmarsch gegen Österreich, d. h. gegen die
Nord- und Ostgrenze von Galizien, setzte die Mobilmachung im Militärbezirk War-
schau voraus; durch diese Maßnahme mußte sich automatisch die Teilmobilmachung
gegen Osterreich auch zu einer Mobilmachung gegen Deutschland erweitern.
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