nung war, daß der in parlamentarischer Taktik vielerfahrene bayerische
Ministerpräsident die Sprengung der unnatürlichen Bundesgenossenschaft
zwischen Sozialisten und Zentrum herbeiführen würde. Man rechnete
darauf, daß der Reichstag ihn nicht ablehnen könnte. Was vermochte
man mehr für die Parlamentarisierung zu tun, als den Kanzler einer der
großen Parteien der Mehrheit zu entnehmen?
Hertling traf am 28. Oktober ein. Er ließ sofort keinen Zweifel darüber,
daß er das Kanzleramt nur nach einer Verständigung mit den Parteien
annehmen würde. Am ersten Abend hatte Hertling ein Gespräch mit Erz-
berger,! das ihn nicht ermutigte. Am nächsten oder übernächsten Morgen
sollte er Ebert sehen — für seine Entschlüsse mußte es entscheidend werden,
ob die Sozialdemokraten ihn unterstützen, zum mindesten nicht in die Oppo-
sition gehen würden. Haußmann versuchte noch vor dieser Unterredung
Ebert in seinem natürlichen Widerstreben gegen die Berufung Hertlings
zu bestärken. Er sagte ihm, daß keine Konzessionen, die Hertling der Mehr-
heit machen würde, dem konservativ gerichteten Mann das Vertrauen der
Linken sichern dürften. Auch im Ausland würde sein Name keine Werbe-
kraft haben. Es lag in Eberts Natur, rein sachlich vorzugehen: „Wenn
Hertling in den entscheidenden Fragen auf unseren Standpunkt tritt, so
können wir nichts gegen ihn einwenden,“ meinte er.
In der nun folgenden Aussprache bekannte sich Hertling zum allgemeinen
geheimen gleichen Wahlrecht und zum Perständigungsfrieden. Er sagte
dem Abgeordneten Ebert zu, daß Payer, der das besondere Vertrauen der
Sozialdemokraten genoß, in die Regierung berufen werden würde. Ebert
verweigerte zwar die Beteiligung der Sozialdemokraten an der neuen
ARegierung, aber machte deutlich: die sachlichen Zugeständnisse hätten ihn
immerhin so beruhigt, daß seine Partei nicht in Opposition gehen würde.
Haußmann versuchte ein Letztes, um die von ihm als unheilvoll angesehene
Kandidatur zu Fall zu bringen; er veröffentlichte in der Presse den folgen-
den Situationsbericht:
„.. Graf Hertling hat sich Bedenkzeit ausgebeten. Er hat besonders lebhafte
Bedenken gegen die Übernahme der preußischen Ministerpräsidentschaft; auch sonst
bestehen noch einige Bedenken bei Graf Hertling. Er beabsichtigt, mit politischen
Persönlichkeiten Rücksprache zu nehmen und hat Graf Westarp empfangen. Man
muß Graf Hertling dankbar sein, daß er in so hohem Alter das große Opfer bringen
will, sich um die Reichssorgen an erster Stelle zu bemühen. Die Aufgabe ist für
ihn eine ungeheuer schwere. Er hat eine klerikal-konservative Vergangenheit, die
ihn der Neuorientierung gegenüber auf Schritt und Tritt belastet, und bei jedem
Entgegenkommen muß er noch besondere Anstrengungen machen, um den Schein
1 Vgl. auch für das Folgende M. Erzberger, a. a. O., S. 292 ff.
140