zu vermeiden, daß er nur aus taktischen Rücksichten handelt. Dieser Anschein der
Taktik hat schon über seiner bayerischen Ministertätigkeit sich ausgebreitet; auch
seine Stellungnahme gegen die Autonomie von Elsaß-Lothringen erschwert seine
Aufgabe und erlaubt ihm höchstens den Rückzug auf die Formel: eine Vertagung
der Frage bis zum Friedensschluß. Auch gegen die Aufhebung des Artikels 9,
Schlußtatz, hat er sich engagiert. Wir hoffen, daß der Reichstag das Gewicht dieser
großen Zweifel nicht verkennt, und daß der Interfraktionelle Ausschuß auf morgen
einberufen wird. Man hat an dem Reichskanzler Michaelis gesehen, eine wie grau-
same Aufgabe es ist, wenn der Kanzler neben den unvermeidlichen äußeren Kämpfen
auch noch die inneren Kämpfe zu bestehen hat, mit denen er sich von seiner Ver-
gangenheit losringen muß, und eine wie kostbare Zeit blutig verschwendet worden
ist. Wieviel leichter und fruchtbarer würde ein Mann wirken, der der überzeugte
und überzeugende Vertreter des Kurses ist, der von der Zeit klar vorgezeichnet ist,
den schließlich jeder Kanzler gehen muß, der aber rascher und erfolgreicher zurück-
gelegt wird, wenn er in der Vorstellung des Inlandes und des Auslandes frei-
willig beschritten wird.“
Die öffentliche Stimmung gegen die Kandidatur Hertlings wuchs. Man
wollte bereits wissen, daß er entschlossen sei, wieder abzureisen. Da griff
der Staatssekretär v. Kühlmann ein und vergewaltigte die Tatsachen.
Er zitierte die Führer der Mehrheitsparteien und eröffnete ihnen: jetzt
macht der Kaiser einen Versuch mit einer neuen Art der Negierungs=
bildung. Die Vertreter der Majorität werden vor der Ernennung des
Kanzlers gehört. Wenn nun der Reichstag einen Führer des Zentrums
ablehne, so würde Seine Majestät die neue Methode als für unsere Ver-
hältnisse untauglich wieder verlassen. Ja, man müßte einen Rückschlag
befürchten; diejenigen Kreise, die schon längst eine Militärdiktatur befür-
worten, könnten Oberwasser bekommen.
Diese Argumente waren von großer Wirkung. Man einigte sich auf
den liberalen Anterbau. Die Sozialdemokraten stimmten der Kanzlerschaft
Hertlings zu unter der Bedingung, daß zwei Vortschrittler in die Regie-
rung aufgenommen würden. Ich erhielt eine Darlegung dieser Vorgänge,
die mit den Worten endete:
„Man kann die ganze Aktion Kühlmanns folgendermaßen charakte-
rifieren:
„Der Reichstag wird dazu ermuntert, reale Garantien zu fordern, um
die Durchführung eines liberalen Drogramms unter einem konservativen
DPremierminister sicherzustellen. Diese realen Garantien führen zu einer
Machterweiterung des Reichstags, wie sie der Reichskag selbst gar nicht
anstrebte. Es ist immer dasselbe Bild: jeder konservative Reichskanzler
wird zu einem Mehrer des Reichstags, weil er das Mißtrauen durch
Konzessionen beseitigen muß, die seine Handlungsfreiheit, ja auch die
Handlungsfreiheit der Krone einengen
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