In der Adresse der Zweiten Kammer heißt es unter anderem, daß
„die namenlosen Drangsale dieser Zeit den großen Grundsatz der Gleichheit der
Rechte und Oflichten aller Staatsbürger vor dem Gesetz schufen“.
In diesen beiden Kundgebungen werden zwei Forderungen aufgestellt, die immer
die Grundlage eines kraftvollen Volksstaates bleiben werden: die Forderung an
den Staat, Achtung vor der Menschenwürde und der persönlichen Freiheit des
einzelnen zu haben; die Forderung an den einzelnen, sich in Hingabe an das Ganze
einzusetzen bis zum höchsten Opfer.
Diese beiden Forderungen scheinen oft in unversöhnlichem Widerstreit. Jedes
Land hat Perioden in seiner Geschichte gekannt, da der übersteigerte Drang nach
Ungebundenheit den einzelnen, ganze Stände, ja Einzelstaaten von der gemeinsamen
Sache des Gaterlandes abkehrte in der Oflege ihrer besonderen Selbständigkeit;
und wiederum kennt die Geschichte jeder Nation Regierungen, die glaubten, die
Staatsautorität durch einen erzwungenen Gehorsam widerstrebender Untertanen
genügend gesichert zu haben.
Mochte dieser Glaube für vergangene Perioden Gültigkeit haben, heute ist er
trügerisch, denn heute enthält die Forderung nach äußerer Kraftentfaltung zugleich
die Forderung nach innerer Freiheit. Wie unsere großen Feldherren immer von
neuem das Heer zu unerhörter Schwungkraft bereit finden, weil der Opfergeist
eines vertrauenden Volkes es durchdringt, so können wir auch im Frieden nur
groß und glücklich dastehen, wenn der Staat getragen wird von einem gemeinsamen
Volksgefühl, wenn der Deutsche durch seinen freien Willen das allgemeine Gesetz
bejaht
Eurer Königlichen Hoheit ist es nicht vergönnt gewesen, die seit dem Regierungs-
antritt so heilsam begonnenen Friedenswerke fortzuführen. Der Krieg ist ge-
kommen mit seinen herrischen, unerbittlichen Anforderungen. Er hat Eurer König-
lichen Hoheit die schwerste aller Aufgaben eines Regenten auferlegt: ein treues
und heißgeliebtes Bolk durch Not und Leid hindurch zuführen.
..Aber im Gefolge eines jeden schweren und langen Krieges sind bisher immer
moralische Volkskrankheiten einhergezogen. Es wäre vermessen, zu glauben, daß
irgendeine kriegführende Nation unberührt bleiben kann. Diese Gefahr bedroht
auch uns, aber sie kann beschworen werden, wenn die geistigen Führer sich ihrer
Aufgabe bewußt bleiben, in Platos Sinn Wächter und Arzte der Volksseele
zu sein.
Schlimm stünde es um die Nation, die glaubte, die Fackel der christlichen Ge-
sinnung während des Krieges senken zu dürfen in der Hoffnung, sie nach dem
Frieden noch lebendig und stolz wieder erheben zu können. Ein solches Land hätte
seinen HPosten als Fackelträger der Gesittung verwirkt.
In jedem Land gibt es Demagogen, die diese Sorge wenig kümmert. Ja die
feindlichen Regierungen erblicken ihre nationale Aufgabe darin, die Gesinnung des
Hasses und der Rachsucht in den Frieden hinüberzuretten und durch Abmachungen
zu verankern, die aus dem kommenden Frieden eine Fortsetzung des Krieges mit
veränderten Mitteln machen sollen. Wahrlich, das wäre ein schlechter Berater
der deutschen Nation, der uns aufforderte, uns ein Beispiel an Clemenceau und
Lloyd George und ihrem neuen Heidentum zu nehmen. Da ist es tröstlich für uns,
zu wissen, daß Eure Königliche Hoheit, getreu dem großen mütterlichen Vorbild
unserer ehrwürdigen Großherzogin Luise, die Aufgabe aller führenden Kräfte in
Deutschland darin sehen, die in jahrtausendelangm geistigen Ringen erwählten und
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