erprobten sittlichen Werte, an die wir im Frieden mit jeder Faser unseres Wesens
glaubten, auch im Kriege treu zu bewachen.
Unsere Art und unsere geschichtliche Entwicklung zeigen uns den Weg zu dieser
VWächterrolle. Die Verfassung Deutschlands ermöglicht uns die Selbstbesinnung;
wir sind nicht gezwungen, in jeder vorübergehenden Aufwallung der Volksleiden-
schaft, in jiedem Auf- und Niederschwanken der Stimmung eine untrügliche Offen-
barung des Volkswillens zu sehen, der wir unser Gewissen zum Opfer zu bringen
haben. Mobherrschaft, Lynchjustiz, Boykott Andersdenkender, Pogroms gegen
Fremde und wie die despotischen Gewohnheiten der westlichen Demokratien alle
heißen mögen, werden hoffentlich unserem Wesen immer so fremd bleiben wie
unserer Sprache.
Es mag sein, daß die Engländer, Franzosen und Amerikaner wirklich an das
Zerrbild Deutschlands glauben, das ihnen ihre verhetzende Propaganda vorspiegelt.
Wir kennen unsere Feinde, wie sie uns nicht kennen und kennen wollen. Wir ver-
mögen zu unterscheiden; darum ist es unsere Dflicht, gerecht zu urteilen und nicht
zu überhören, wenn gegen Außerungen niedriger und roher Gesinnung bei unseren
Feinden aus der Tiefe ihrer Bölker selbst zornige Abwehr aufsteigt.
Solche Freiheit des Arteils war uns nicht immer gegeben. In jahrhunderte-
langem Bruderzwist hatten wir die Periode der Unduldsamkeit durchzukämpfen
und zu überwinden.
Die Schlichtung der inneren staatlichen und religiösen Gegensätze in Deutschland
ist im kleinen eine geistige Vorbereitung für eine Zusammenarbeit der Völker ge-
worden. Hat es doch in unserer Geschichte lange Strecken gegeben, da das Zu-
sammenraffen all der stolzen und eigenwilligen Stämme zu einer großen freiwilligen
nationalen Einheit so utopisch erschien, wie es heute utopisch erscheint, daß einmal
der Tag kommen wird, an dem die kämpfenden, hassenden und voneinander so
Namenloses leidenden Völker sich zu einer großen Menschheitsgemeinschaft zu-
sammenfinden, die noch nie gegeben war, die aber aufgegeben ist von dem religiösen
Gewissen aller Bölker und uns Deutschen noch besonders von unserem größten
Denker, Immanuel Kant.
Konnte doch die Einheit des Deutschen Reiches nur gelingen, weil der Glaube
an dieses Ideal selbst in den ganz verdüsterten Zeiten deutscher Geschichte niemals
erloschen war. So sollten diejenigen, denen das ferne Ziel des Miteinanders der
Völker ehrlich am Herzen liegt, nicht den Glauben an ihre große Hoffnung ver-
lieren, mag uns auch die gegenwärtige Gesinnung unserer Feinde das Wort „Liga
der Nationen" noch so verdächtig erscheinen lassen.
Noch ist Krieg. In England, Frankreich und Amerika hebt schamloser denn je
der Vernichtungswille sein Haupt. Ihre alten, längst zusammengebrochenen Illu-
sionen tauchen wieder auf. Sie werden wieder zusammenbrechen. Wir haben es
nicht nötig, uns zur Einigkeit zu ermahnen. Jede Handlung, jede Rede der feind-
lichen Regierungen ruft uns zu: Schließt die Reihen!
Der Sturm, der unser nationales Leben bedroht, ist schwer und dauert lange.
Wer zweifelt daran, daß wir ihn siegreich bestehen?..“
Im allgemeinen fanden Solf und ich Beifall auf der Rechten und auf
der Linken. Die Konservativen dankten Solf besonders die stolze Sprache.
Der Kaiser telegraphierte mir seine Billigung. Die „Frankfurter Zeitung"“
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